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Wie es ist, 3 Wochen auf einem Schiff zu verbringen, das Migranten auf See rettet

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Von denjenigen, die das Mittelmeer überqueren, sterben immer noch Dutzende von Menschen. Diese ehrenamtlichen Helfer versuchen das zu verhindern.

In den weiten, bläulich-grünen Gewässern des Meeres erschien ein Fleck vor dem steuerbordseitigen Bug der MS Aquarius. Edward Taylor, der hochgewachsene 28-jährige Projektkoordinator für Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen), rannte durch den Gang des vier Jahrzehnte alten, 77 m langen Such- und Rettungsschiffs, das von MSF und SOS Mediterranee betrieben wird.

"Macht euch bereit", teilte Taylor seinem Team mit. "Etwa 30 Minuten bis zur Rettung. Ein Gummiboot wurde entdeckt."

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Es ist Mittag am 12. Januar und die Aquarius befindet sich seit weniger als 24 Stunden in den Gewässern vor der Küste von Libyen, unterwegs auf einer dreiwöchigen Reise, um nach Migranten zu suchen, die auf dem Weg von Afrika nach Europa sind. Im Laufe der folgenden drei Wochen wird das Schiff 342 Personen retten. In diesem Jahr waren es schon insgesamt 1.823.

An diesem Tag gibt es potenziell viele Menschen zu retten. Eine Pause im harten Winterwetter bedeutet eine Zunahme der Boote, die die libysche Küste verlassen. Einen Tag zuvor hat die Leitstelle für marine Rettungseinsätze in Rom ein Bulletin für alle Rettungsschiffe in der Gegend veröffentlicht, um nach einem Gummiboot mit Migranten in Not Ausschau zu halten. Als die Aquarius die Koordinaten am späten Abend erreicht, kann dort kein Boot gefunden werden. Doch Augenblicke später erscheint eines in Sichtweite.

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Rettungskräfte eilen über das Deck und schieben große Plastikkisten, die mit vorbereiteten Notfallkoffern gefüllt sind. Sie bereiten Taschen mit Schwimmwesten vor und die Schiffsbesatzung beginnt, die robusten aufblasbaren Boote für die Rettung einsatzbereit zu machen.

Auf dem hinteren Deck des Schiffes verschafft der Such-und-Rettungs-Koordinator Yohann Mucherie seinem Rettungsteam einen Überblick darüber, was von der Brücke aus gesichtet worden ist.

Alle 28 Besatzungsmitglieder und Hilfskräfte an Bord sind bereit. "Langsam ist stetig und stetig ist schnell", weist der stellvertretende Such- und Rettungskoordinator Max Avis sein Team an, als die beiden Rettungsinseln ins Wasser gelassen werden.

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Das Boot der Migranten ist mit mehr als 120 Personen gefüllt. Unter ihnen befindet sich Kelvin Okle, ein 19-jähriger Nigerianer. Er sagt, er habe drei Jahre in Libyen gelebt, um zu arbeiten und genug Geld zusammenzukratzen, um für seine Überfahrt zu bezahlen. Er war mit seinem Vater, der vor etwa einem Jahr verstarb, nach Norden gereist. Irgendwann wurde er entführt und geschlagen. "Sie sagten mir, Kugeln sind billig – sie kosten nur einen Dinar. Ich kann mehr kaufen und dich töten", erinnert er sich. "Ich bin wirklich froh, dass ich von diesem toten Land weit weg bin."

Auf der ersten Rettungsinsel beginnt Oussama Omrane, der als Übersetzer und kultureller Vermittler arbeitet, eine Rede zu halten, um die Menschen zu beruhigen und die nächsten Schritte zu erklären. Als die zweite Rettungsinsel sich der Seite des Gummiboots nähert, erklärt Avis den Migranten, dass das aufsteigende Wasser im Boot wegen dessen Gewicht normal war. Es füllt das Boot von der Heckseite her und reicht nun bis zu den Schienbeinen. Die Migranten scheinen Angst zu haben, bleiben jedoch ruhig. Langsam verteilen die Rettungskräfte die Rettungswesten an die Migranten.

"Hier!", ruft ein Migrant den Rettungskräften zu. "Ich brauche eine!"

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Der Übergang der Migranten von ihrem Boot auf die Rettungsinseln ist der gefährlichste Teil der Rettung. Die Rettungskräfte haben einmal bei schlechtem Wetter versehentlich ein Loch in ein mit Migranten gefülltes Boot gestochen und es begann sinken. "Ich weiß nicht, wie wir es hingekriegt haben und es wurde niemand getötet", erinnert sich Mucherie, der Rettungskoordinator. "Ich war fast überzeugt, dass wir es nicht schaffen würden, alle sicher an Bord zu bringen."

Die Spannungen auf dem Boot steigen, als Migranten, darunter Jugendliche und Frauen, gegeneinander drängen, um die Rettungsboote zu erreichen. Das schlimmste Szenario bei Winterwetter ist, wenn die Leute anfangen in Panik aus dem Gummiboot zu springen. Unterkühlung und Belastung sind tödlich. Zu dieser Jahreszeit sind Unwetter und Stürme üblich.

Nach den Hin- und Rückfahrten, um die Migranten zur Aquarius zu bringen, unternimmt die Rettungsinsel immer eine letzte Fahrt zurück zum leeren Gummiboot.
Das ist der grausigste Teil der Rettung, wenn die Hilfskräfte nach Leichen suchen. Oft liegen sie unter den Holzstegen an der Unterseite des Bootes.

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Als die Migranten an Bord sind, werden sie auf Treibstoff an ihrer Kleidung und auf ihrer Haut überprüft, um das Risiko von Feuer und Verbrennungen zu reduzieren. Diejenigen, die nach Treibstoff riechen, werden sofort abgewaschen und gebeten, die sauberen Trainingsanzüge aus den Notfallkoffern anzuziehen. Die Koffer enthalten auch ein kleines Handtuch, eine große Decke, Energieriegel, ein Paar Socken und eine Flasche Wasser. Viele haben stundenlang nichts außer Meerwasser getrunken.

Dann werden – wie bei jedem Rettungseinsatz üblich – die Frauen von den Männern getrennt und an einen Platz im Inneren des Schiffes namens "The Shelter" geführt. Dort spricht ein Berater mit ihnen sprach über jedes Trauma oder Erfahrungen mit sexueller Gewalt, die sie möglicherweise auf ihren langen Reisen erlebt haben. "Du kannst mit einigen schlechten Leuten in Libyen festsitzen", sagt eine Frau namens Lovitt, eine Nigerianerin, die fünf Monate in dem Land verbracht hat, bevor sie die Überfahrt machte. "Und sie werden dich nicht gehen lassen."

Falls sie medizinische Versorgung benötigen, erhalten sie eine Untersuchung. Falls sie schwanger sind, gibt es eine Hebamme an Bord.

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Nach ein paar Stunden beginnen die Rettungskräfte mit der Essensverteilung an die Migranten und erhitzten Beutel mit Gemüseeintopf von der Firma "Adventure Food."
Die Rettungskräfte hören Manu Chao und Bob Marley, während sie die Mahlzeiten zubereiten. Sie untersuchen die Migranten außerdem auf Krätze und andere Beschwerden. Diejenigen mit Krätze, Wunden oder irgendwelchen anderen Krankheiten erhalten verschiedenfarbige Bänder um ihre Handgelenke, damit sie die richtige medizinische Versorgung erhalten können, sobald sie in Sizilien ankommen. Um medizinische Notfälle, potenzielle Gewalt oder irgendwelche anderen Probleme unter den Migranten zu überwachen, beobachten sie zwei Rettungskräfte rund um die Uhr.

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Die Aquarius wurde einst für Meereserkundungen nach Öl- und Gasvorkommen unter dem Meeresboden eingesetzt. In diesen Tagen ist sie voll besetzt mit einer neunköpfigen Segelmannschaft, zwei Köchen, 20 Rettungskräften und Medizinern und mit bis zu 400 Personen im Winter.

Die Migranten fliehen vor dem Krieg, der Armut und der politischen Unterdrückung und bezahlen Schmugglern Tausende von Dollar, in der Hoffnung, es über das Meer und in ein besseres Leben zu schaffen. Mehr als 360.000 Migranten sind im vergangenen Jahr auf dem Seeweg nach Europa gelangt. Im Januar 2017 kamen 5932 an, 254 sind tot oder gelten als vermisst.

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Während die Aquarius wochenlang am Stück unterwegs auf See ist, stehen das Schiff und seine Besatzung in ständiger Einsatzbereitschaft und dienen gleichzeitig als schwimmendes Rettungsfahrzeug, Krankenwagen, Klinik und Obdachlosenheim. Die Rettung von Leben auf dem Meer ist sowohl gefährlich als auch teuer. Die Rettungseinsätze werden durch Spenden an verschiedene Hilfsorganisationen finanziert. "Wir sind nicht Teil des Schmugglerrings und wir brauchen Geld, sonst können wir nicht weitermachen", so Mucherie. Er sagt, dass die Bemühungen zur Finanzmittelbeschaffung durch anhaltende falsche Gerüchte erschwert wird, dass die Hilfsorganisationen mit den Schmugglern unter einer Decke stecken, die die Migranten durch die Wüste transportieren und auf die Boote bringen.

"Viele Leute denken, dass die Tatsache, dass wir hier sind, die Menschen dazu veranlasst, Libyen zu verlassen und sie nicht gehen würden, wenn wir nicht hier wären", sag er. "Und ich weiß, dass das nicht wahr ist, weil die Leute sich auch weiterhin auf den Weg machen, selbst wenn wir nicht hier sind."

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Einen Tag später wird die Mannschaft wegen eines großen Gummibootes mit vielen Migranten an Bord benachrichtigt. Die Mannschaft und Rettungskräfte nähern sich dem in Not geratenen Boot und beginnen den mühsamen Prozess, die Migranten auf die Aquarius zu bringen - insgesamt 193 Leute.

Danach fährt eines der Rettungsteams zurück, um nach Leichen zu suchen, und entdeckt zwei junge Männer, die unter die Holzplanken gequetscht waren.

MSF-Ärztin Anja Batrice stellt als Todesursache Erstickung fest. Manchmal, wenn Benzin austritt oder Dämpfe entstehen, fallen die Leute in eine Art Rausch. Sie brechen halb bewusstlos auf dem Boden des Gummibootes zusammen und wenn das Boot mit Wasser gefüllt ist, kann sie das giftige Gemisch aus Wasser und Benzin ertränken.

Die Rettungsinsel mit den Leichen wird auf das Boot gezogen und die Leichen werden abseits von den geretteten Migranten auf dem Boot aufbewahrt. Als die Nacht anbricht, werden Essen und Kleidung ausgeteilt.

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Dann, ein paar Stunden später, bringt ein italienisches Marineschiff 109 gerettete Migranten auf die Aquarius, um sich seiner Last zu entledigen und in die Such-und-Rettungszone zurückzukehren.

Die Aquarius bricht mit fast 300 Menschen Richtung Sizilien auf, als am nächsten Morgen das Wetter unangenehm umschlägt. Wellen von über 3 Metern Höhe. Viele der Migranten an Bord, Einheimische von landumschlossenen Gegenden, für die das raue Meer neu ist, fangen an, sich zu übergeben.

Am nächsten Morgen liegt Aufregung auf der Aquarius in der Luft. Die Migranten haben Land entdeckt – Sizilien. Das Schiff hat die Anordnung, Migranten an der Hafenstadt Messina von Bord zu lassen. Der Prozess dauert länger, als die Mannschaft erwartet hatte, da die Italiener nur fünf auf einmal nehmen. Italienische Behörden verzögern die Landung, da sie die Migranten am Hafen registrieren lassen wollten statt in den Registrierungszentren. Manche Migranten sind gezwungen, eine weitere Nacht auf dem Schiff zu schlafen. Am nächsten Morgen gehen alle verbliebenen Migranten von Bord, und das Schiff fährt wieder auf See hinaus.

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Für die Mannschaft der Aquarius sind die Rettungsbemühungen zu einer Art Lebensrichtung geworden, eine Besessenheit sogar, die sie sogar dann im Bann hält, wenn sie an Land mit ihren Familien zusammen sind. "Es gibt keine Mitte," sagt Alexander Moroz, der Kapitän der Aquarius. "Entweder, man mag diesen Job, oder nicht. Ich mag ihn. Mir gefällt, was wir machen. Das Gefühl ist, etwas Gutes zu tun. Man ist in der richtigen Richtung. Man hilft. Ich bin immer in Kontakt mit dem Menschen an Bord – ich folge dem, was das Schiff macht. Ich bin zwar nicht mehr an Bord, aber sagen wir, ein Teil von mir ist immer noch an Bord."

Moroz spricht von einer Art Kulturkonflikt, der sich auftut zwischen den Seefahrern, die schon lange auf Schiffen arbeiten und den jungen, idealistischen Rettungskräften. "Sie sind voller Energie," sagt er. "Sie sind voller Mut, die Welt zu retten."

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Trotzdem wird das Leben auf der Aquarius nicht von Idealen, sondern einer Reihe einfacher, aber strenger Regeln beherrscht. Man darf nicht rennen. Bei Sturm sollte man die Fenster geschlossen halten. Man sollte beachten, dass man mit vielen Leuten auf einer kleinen Fläche 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zusammengedrängt ist. In der Freizeit versuchen die Mannschaft und die Rettungskräfte, etwas Normalität zu erschaffen, indem sie Backgammon-Turniere oder Sport an Deck organisieren.

"Es ist, als ob man ein großes Haus mit anderen Menschen teilt, aber man kann nicht weg," sagt Mucherie, der Such-und-Rettungskoordinator für SOS Mediterranee. "Daher muss man ein paar Regeln folgen, sonst bricht alles in Chaos aus."

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SOS Mediterranee ist für die Such-und-Rettungssaktionen einschließlich der Rettungsinsel und dem Training der Rettungskräfte verantwortlich. Ärzte ohne Grenzen sind für die medizinische Versorgung verantwortlich. Viele der Arbeiter für SOS Mediterranee sind unbezahlte Volontäre. Wenige von ihnen haben Familie.

"Man sagt immer, wenn man später zurückschaut, wird immer gefragt, warum ihnen nicht geholfen wurde, warum die Menschen die Dinge nicht anders gesehen haben?" sagt Edward Taylor, der MSF-Koordinator an Bord. "Ich kann garantieren, dass in 70 Jahren oder 50, oder vielleicht noch kürzer – vielleicht ein Jahrzehnt – die Menschen zurückschauen werden und sagen: 'Das war wirklich ein Fehler.'"

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Die Mannschaftsmitglieder sagen, sie werden von zu vielen harten Tagen verfolgt, die sie noch genau in Erinnerung haben. "Ich finde die ganze Sache, um direkt zu sein, tragisch," sagt Taylor. "Wir hatten Situationen, wo wir 22 Leichen an Bord hatten, die alle Frauen waren."

Keiner der Volontäre kann einen Tag voraussehen, an dem die Such-und-Rettungsmissionen enden werden – außer vielleicht, wenn Europa einem Vorschlag folgt, die Aufnahme aller Migranten zu stoppen, die es nach Europa schaffen. Aber wenige glauben, dass das Migranten stoppen würde. Das sind Menschen, die bereit sind, ihre angestammte Heimat wegen Krieg oder anderem Elend zu verlassen, für Tage durch die Wüste zu wandern, in ein Land wie Libyen, das von Krieg und Verbrechen beherrscht wird, und dann an Bord eines Gummischlauchbootes zu gehen, das fast keine Chance hat, es nach Italien zu schaffen. Eine Änderung der Politik in Brüssel oder Rom wird diese Menschen nicht aufhalten.

"Ich finde, das Beste wäre, diese Mission eines Tages zu beenden, weil es Nichts und Niemanden mehr zu retten gibt," sagt Moroz, der Kapitän. "Ich hoffe wirklich, dass dies eines Tages passieren wird."

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Sima Diab ist ein Fotograf mit Sitz in Kairo.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch.

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