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8 Arten, auf die sich die Türkei seit dem Putschversuch vergangenes Jahr verändert hat

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Der fehlgeschlagene Putsch eines Teils des türkischen Militärs hat das Land gespalten – und Erdogan Aufwind gegeben.

ISTANBUL — Am 15. Juli vergangenen Jahres hat die Türkei einen der blutigsten Putschversuche in seiner politischen Geschichte erlebt. Der fehlgeschlagene Plan markierte einen wichtigen Wendepunkt für das Land. Noch ein Jahr später hat das Land mit den Folgen zu kämpfen.

Stunden, nachdem ein Teil des türkischen Militärs Soldaten und Panzer in die Straßen großer Städte entsandt hatte, um den Präsidenten des Landes und die Regierung zu stürzen, gingen Tausende von Menschen auf die Straßen, um sich den Verschwörern entgegenzustellen. Fast 250 Menschen wurden getötet und mehr als 2100 wurden verletzt.

"Was der 15. Juli uns als Land und Nation bedeutet, wird in der Zukunft besser verstanden werden", sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Veranstaltung, die den ersten Jahrestag des Putschversuchs markiert hat.

So hat der fehlgeschlagene Versuch einer Machtübernahme das Land verändert.

Medien in Bedrängnis

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Seit dem versuchten Putsch hat die Regierung 157 Medieneinrichtungen geschlossen und 2500 Mitarbeiter haben ihre Arbeit verloren. 780 Journalisten wurde der Presseausweis entzogen. Mehr als 150 Journalisten sitzen heute im Gefängnis. Laut der Türkischen Journalistenvereinigung (TGC) mussten rund 120 Journalisten das Land nach dem 15. Juli verlassen.

Nur wenige unabhängige Presseorganisationen sind übrig. "Sie wurden von der Regierung kriminalisiert und stehen unter großem Druck", erzählt Erol Onderoglu, Sprecher von Reporter ohne Grenzen (RSF) Türkei, gegenüber BuzzFeed News. Trotzdem bestreitet die türkische Regierung die fortlaufende Unterdrückung. "Niemand wird hier wegen Journalismus eingesperrt. Nur zwei echte Journalisten befinden sich momentan im Gefängnis", sagte Erdogan vor kurzem der BBC.

Braindrain nach dem Putschversuch

Studenten protestieren gegen die Entlassung von Akademikern an Universitäten.
Studenten protestieren gegen die Entlassung von Akademikern an Universitäten. © Adem Altan / AFP / Getty Images

Seit dem Putschversuch herrscht Misstrauen gegen Lehrpersonal. Letztes Jahr schloss die Türkei 15 Universitäten wegen angeblicher Verbindungen zum muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen, der in den USA lebt. Laut einem Bericht von Amnesty International vom vergangenen Mai wurden mehr als 5.000 Akademiker und andere Mitarbeiter mit höherer Bildung entlassen. Die Säuberungsaktionen hatten führende Akademiker des Landes zum Ziel. Die Universität von Ankara, eine der ältesten Hochschulen des Landes, verlor nach dem Putschversuch 72 Professoren aus dem Bereich Recht und Politikwissenschaft.

Die Entlassungen wirkten sich jedoch nicht nur auf die Sozialwissenschaften aus. Nachdem man die Professorin Zelal Ekinci entließ, die Gründerin der Abteilung für pädiatrische Rheumatologie an der Universität Kocaeli, wurde die Abteilung geschlossen – verzweifelte Medizinstudenten und Patienten blieben zurück.

Justizsystem in der Krise

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Das türkische Justizministerium sagt, dass 169.013 Leute auf Verbindungen zum Putschversuch hin untersucht werden. 50.510 Leute wurden im Zuge der laufenden Ermittlungen festgenommen. Innerhalb des Justizsystems selbst wurden nach dem Putschversuch 2.280 Richter und Staatsanwälte, 105 Mitglieder des obersten Gerichtshofs, 41 Mitglieder des Staatsrats, 2 Mitglieder des Verfassungsgerichts und 3 Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte wegen Terrorverdachts festgenommen.

Wenn der Ausnahmezustand normal wird

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Nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch, welcher 250 Menschen das Leben kostete und 2200 weitere verletzte, rief die Türkei am 20. Juli 2016 einen dreimonatigen Ausnahmezustand aus. Die Erklärung erlaubte es den Behörden, per Verordnung zu regieren und das Parlament beim Verabschieden neuer Gesetze zu umgehen. Doch anstatt auszulaufen, wurde der Ausnahmezustand um weitere drei Monate verlängert, dann wieder und dann wieder. Erdogan sagte vor kurzem, dass der Ausnahmezustand nicht aufgehoben wird, ehe der Kampf gegen der Terror vorbei ist. "Die Notverordnung aufzuheben könnte in der nahen Zukunft möglich sein", fügte er letzte Woche hinzu.

Eine gespaltene Gesellschaft

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Eine Studie, die von der Kadir Has Universität, einer Privat-Uni in Istanbul, herausgegeben wurde, zeigt, dass 61,7 Prozent der türkischen Gesellschaft denken, dass das Land gespalten ist. Fast zwei Drittel denken, dass dies an der "säkular-konservativen" Spaltung liegt, während 21,9 Prozent die "Links-Rechts"-Spaltung dahinter vermuten und 15,2 Prozent das Ganze als "Ost-West"-Spaltung sehen.

Das "kurdische Problem" verschärft sich

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Laut einem Bericht von Amnesty International ersetzte die türkische Regierung während des Ausnahmezustands 49 gewählte kurdische Bürgermeister mit Treuhändern der Regierung. 13 Politiker der führenden pro-kurdischen Partei HDP, inklusive der Doppelspitze, bestehend aus Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, wurden im November 2016 unter Terrorverdacht wegen mutmaßlicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK festgenommen.

"Die PKK muss all ihre Waffen vergraben. Aber zu vermuten, man könne all seine Waffen behalten, und sich trotzdem hinsetzen und reden – das wird nicht passieren", sagte Erdogan in einer Rede während der Referendumskampagne im April.

"Der 15. Juli hätte eine Möglichkeit zur sozialen und politischen Versöhnung sein können, aber der Ausschluss der HDP in Folge des Putschversuchs hat diese Möglichkeit zunichte gemacht", sagte Vahap Coskun, außerordentlicher Professor der Rechtswissenschaft an der Dicle Universität in Diyarbakir, gegenüber BuzzFeed News. "Bei der aktuellen politischen Atmosphäre scheint ein neuer Friedensprozess kaum möglich."

Eine Türkei, die noch anti-amerikanischer ist

Ein Erdogan-Unterstützer hält eine Nachbildung Fethullah Gülens.
Ein Erdogan-Unterstützer hält eine Nachbildung Fethullah Gülens. © Aris Messinis / AFP / Getty Images

Die Spannungen zwischen den USA und der Türkei verstärkten sich vor allem wegen zwei großer Streitpunkten: Die Forderung der Türkei, den freiwillig ins Exil gegangenen muslimischen Geistlichen und vermuteten Putsch-Drahtzieher Fethullah Gülen auszuliefern. Und Washingtons Entscheidung, weiterhin Waffen an kurdische Kämpfer in Syrien zu liefern, die mit der PKK in Verbindung stehen. Auch die Prügelei zwischen Protestanten und Erdogans Leibwächtern während des Washington-Besuchs des türkischen Präsidenten verschlechterte die Lage im rhetorischen und öffentlichen Streit der beiden Länder.

Laut einer neuen Umfrage von BBC sind Türken in letzter Zeit anti-amerikanischer geworden und werfen den US-Behörden vor, "terroristische Gruppen zu unterstützen".

Ein mächtigerer Präsident

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Am 16. April wurde in der Türkei über ein Verfassungsänderungspaket abgestimmt. Präsident Erdogan erweiterte seine präsidiale Macht mit einer knappen Mehrheit von 51,3 Prozent. Nach Anschuldigungen von Wahlbetrug protestierten Menschen auf den Straßen, die mit "Nein" gestimmt hatten.

Unter neuen Regeln, die in zwei Jahren implementiert werden sollen, wird der Präsident der Türkei die Macht haben, Minister zu benennen und zu entlassen, Durchführungserlasse herauszugeben und Richter auszuwählen. Serdar Gülener, politischer Forscher für den regierungsfreundlichen Thinktank SETA (Stiftung für Politik, Wirtschaft und Soziale Forschung), sagt, die Abschaffung des "türkischen parlamentarischen Regierungssystems" wird die Regierung optimieren, indem die Position des Premierministers abgeschafft und die Macht in der Präsidentschaft gebündelt wird. "Das Präsidialsystem, in dem der Präsident von den Leuten direkt gewählt wird, bringt eine zuverlässigere und stärker autorisierte exekutive Macht", sagte er gegenüber BuzzFeed News.

Aber viele Aktivisten und die Opposition befürchten, dass Erdogan bereits zu viel Macht innehat und effektiv als exekutiver Präsident regiert. Dem Präsidenten mehr Autorität zu verleihen bringe die Türkei näher an eine Ein-Mann-Regierung und zerstöre schwache demokratische Institutionen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch.

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