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Früher habe ich Kalorien gezählt, heute zähle ich Kohlenhydrate: Mein Leben mit Diabetes

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Vor fünf Monaten bekam ich die Diagnose Typ-1-Diabetes. Seither versuche ich zu begreifen, wie die Krankheit meine Zukunft verändern wird – und was sie mir über mein bisheriges Leben sagt.

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Als ich erfuhr, dass ich an Typ-1-Diabetes erkrankt war, hatte ich gerade ein Stück Rührkuchen gegessen. Meine Finger waren noch klebrig vom Puderzucker, da klingelte das Telefon, und ich ging ran.

Während der Monate vor diesem Anruf hatte mich ein unstillbarer Heißhunger geplagt. Ich konnte eine ganze Mahlzeit essen – auch so etwas Sättigendes wie Pad Thai oder ein indisches Curry-Gericht – und kaum war mein Teller leer, hätte ich dasselbe gleich noch mal verdrücken können. Während der Pubertät bis Anfang zwanzig hätte ich mich schuldig gefühlt wegen dieser unbändigen Esslust, und mir ständig Selbstvorwürfe deswegen gemacht. Ich hätte den Hunger unterdrückt und ihm nicht nachgegeben. Doch mit dreißig hatte ich Frieden geschlossen mit meinem Körper und seinen Bedürfnissen, und ich war bereit, ihm das zu geben, was er wollte. Und in letzter Zeit hatte mein Körper mir zu verstehen gegeben, dass er riesige Portionen und immer noch mehr wollte.

Der Tag meiner Diagnose fiel auf den Wahltag im November 2014. Ich ging morgens wählen, und vor dem Wahllokal verkauften Kinder an einem Stand Kuchen und Gebäck. Ich holte mir ein Stück Rührkuchen und einen großen Schoko-Haferkeks, für das zweite und dritte Frühstück.

Wenige Tage zuvor war ich bei meiner Hausärztin gewesen. Der Hunger und andere seltsame Symptome hatten in der stressigen Planungsphase für meine Hochzeit im September 2013 angefangen. Inzwischen war ich verheiratet, doch die Symptome hörten nicht auf. Ich wachte jede Nacht auf, weil ich dringend pinkeln musste. Das kannte ich bisher überhaupt nicht. Nachts packte mich ein wahnsinniger Durst, ich gierte nach einem Glas Wasser wie eine Raucherin, die unbedingt ihre Zigarette braucht. Und als ich mich in der Arztpraxis auf die Waage stellte, hatte ich so viel an Gewicht verloren, dass ich weniger als 45 Kilo wog. Selbst bei meiner Größe – ich bin gerade mal ein Meter zweiundfünfzig groß – war dieser Gewichtsverlust dramatisch. Doch als eine Arzthelferin von Zucker anfing, erklärte mir die Ärztin unmissverständlich, dass ich keinesfalls an Diabetes leiden könne. Sie sind zu alt, sagte sie. Sie sind nicht krank genug. Sie sind nicht übergewichtig.

Doch jeder weiß, was es bedeutet, wenn man einen Anruf vom Arzt erhält. Es sind nie gute Nachrichten. Ich wischte mir den Puderzucker so gut es ging an der Hose ab und nahm ab. Was die Sprechstundenhilfe mir genau sagte, weiß ich nicht mehr, doch klar war: Ich hatte Diabetes, meine Blutzuckerwerte waren astronomisch hoch, und ich musste so schnell wie möglich ins Krankenhaus.

Den Haferkeks ließ ich auf der Küchenplatte liegen. Als ich ihn Monate später endlich wegwarf, war er steinhart und schimmlig.

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Lange Jahre hatte ich mich bemüht, meinen Körper so zu akzeptieren, wie er war. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich ihn zum ersten Mal ablehnte. Eine kleine Drehung reichte aus dafür. Bis dahin hatte ich mich immer von vorn im Spiegel angeschaut. An diesem Tag – ich war damals zwölf – drehte ich mich zur Seite und sah, wie mir der Babyspeck über den Hosenbund hing. Ah, dachte ich, so sieht es aus, wenn man fett ist.

Innerhalb von wenigen Minuten war mir klar, dass dieses unerwünschte Bäuchlein mit den Sachen zu tun hatte, die ich gerne aß. Ich weiß nicht, warum ich sofort diesen Zusammenhang herstellte. Offenbar hatte ich ihn aus der Welt um mich herum, mit ihren unzähligen Werbespots für Süßigkeiten, die man ohne schlechtes Gewissen essen durfte, und ihren Diäten, mit denen die Pfunde angeblich nur so purzelten. Ich analysierte meine typischen Mahlzeiten und dachte mir: Das habe ich nun davon, dass ich dauernd Tiefkühlpizza und Hähnchensticks mit Paprika-Dip esse.

Vor diesem Tag, als ich mich im Gäste-Badezimmer buchstäblich aus einem neuen Blickwinkel betrachtete, war mein Körper nur die Gestalt gewesen, in der ich spielte, aß und auf Bäume kletterte. Oder eigentlich war er sogar noch untrennbarer mit mir verbunden. Ich stellte ihn mir nicht als etwas Separates vor; mein Körper war einfach Ich.

Nach diesem Tag fing ich an abzunehmen. Ich wollte selbst bestimmen, wie mein Körper aussah. Und diese Selbstbestimmung übte ich aus, indem ich streng kontrollierte, was ich meinem Körper an Essen zuführte. Oft gab ich ihm das Falsche, weil ich es nicht besser wusste. Ich wollte weniger Kalorien zu mir nehmen, deshalb beschloss ich, weniger zu essen. Alles, was ich meiner Meinung nach nicht essen sollte, verbot ich mir und hielt mich an dieses Verbot mit der Disziplin eines Mönchs. Einmal verkroch ich mich einen ganzen Tag in meinem Zimmer und aß vom Aufstehen bis zum Abend keinen einzigen Bissen. Freitagabends bestellten wir immer Fastfood vom Chinesen für die ganze Familie, und da wollte ich ohne schlechtes Gewissen zuschlagen. Doch an diesem Abend kam die Lieferung Stunden zu spät. Zu diesem Zeitpunkt war ich beinahe ohnmächtig vor Hunger. Meine Eltern bekamen nichts davon mit – oder vielleicht wollten sie auch nichts davon mitbekommen. Sie wussten, dass ich dauernd am Abnehmen war, aber sie dachten nur, ich wolle „gesund“ essen.

Einen Sommer lang fastete ich besonders radikal. Es war die einzige Zeit in meinem Leben vor dem Diabetes, als ich weniger als fünfzig Kilo wog. Was ich an Kraft und Energie einbüßte, gewann ich an Kontrolle. Zumindest fühlte es sich so an. Mir war es egal, dass mein Körper nicht bekam, was er brauchte. Mein Körper sollte so aussehen, wie ich es wollte. Das war mir wichtig.

Ich war nicht die Einzige, der es so ging. Die meisten Teenager haben Schwierigkeiten, sich mit ihrem veränderten Körper anzufreunden. Für Mädchen ist es besonders schwierig. 80 Prozent der weiblichen Teenager haben Angst, sie könnten zu dick sein. Doppelt so viele Mädchen wie Jungen entwickeln eine Essstörung. Bei mir wurde nie offiziell eine Essstörung diagnostiziert, aber ich war besessen davon, meinen kleinen hartnäckigen Bauch wegzukriegen.

Das Bedürfnis, meinen Körper zu kontrollieren, hielt sich über die gesamte Unizeit. Doch ab Mitte zwanzig fand ich allmählich zurück zu einem normalen Körpergefühl. Ich schloss nach langen Verhandlungen Verträge mit mir selbst, ich formte eine neue Verbindung zu meinem Körper. Ich machte viel Sport, aß nur gesundes Essen und im Gegenzug bekam mein Körper von mir das, was er wollte. Ich schwor mir, nie wieder gegen meinen Körper, sondern mit ihm zusammen zu handeln.

Ein Punkt dieses Vertrags war, dass ich mit der Kalorienzählerei aufhörte und mich nicht mehr fertigmachte, wenn ich mehr aß als das Limit, das ich mir gesetzt hatte. Meine neue Devise war: kein Hungern mehr. Wenn ich einen Keks wollte, dann aß ich ihn und überzeugte mich selbst davon, dass ich keine Schuldgefühle deswegen zu haben brauchte. Wenn ich nach dem Abendessen immer noch hungrig war, nahm ich mir einfach einen Nachschlag. Ganz allmählich stellte sich wieder das Körpergefühl ein, das ich als Kind gehabt hatte: das Gefühl, dass ich in meinem Körper lebte und nicht für ihn. Es gab sogar Momente, wo ich stolz war auf meine Beweglichkeit auf der Yogamatte oder meine Ausdauer auf dem Laufband.

Doch dann brachen die alten Gräben von neuem auf.

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Früher war Diabetes ein Todesurteil. Bei Typ-1, der Autoimmunerkrankung, an der ich leide, greift der Körper die Zellen in der Bauchspeicheldrüse an, die für die Insulinproduktion zuständig sind. Insulin ist ein Hormon, das andere Zellen dazu anregt, Glukose aus dem Blut aufzunehmen und in Energie umzuwandeln. Früher starben Diabetiker buchstäblich an Energiemangel. Traubenzucker ist als Energiequelle lebensnotwendig, doch ohne Insulin kann der Zucker nicht aus den Kohlenhydraten aufgenommen werden. Der Körper zehrt dann solange von seinen eigenen Reserven, bis nichts mehr übrig ist.

Spritzbares Insulin kam in den früher 1920ern auf den Markt. Heute ist Diabetes eine Krankheit, mit der man leben kann, allerdings mit einer strikten Kontrolle der Nahrungsaufnahme. Die Ursachen der Krankheit sind unbekannt, und es gibt keine Heilung. Aber es gibt eine Behandlungsmethode, die das Leben von Diabetikern theoretisch unendlich und oft völlig schmerzfrei verlängern kann. Für die meisten Autoimmunkrankheiten und andere chronische Beschwerden gibt es eine solche Behandlung nicht.

Um ein halbwegs normales Leben zu führen, muss eine Typ-1-Diabetikerin die Rolle ihrer Bauchspeicheldrüse übernehmen. Was bedeutet, dass ich mich wieder im offenen Kampf mit meinem Körper befinde. Ich übernehme die Aufgabe eines Organs, das nicht mehr funktioniert, weil mein Körper alles daran setzt, es zu zerstören. Diese Aufgabe fordert eine diktatorische Disziplin von mir. Für die Kohlenhydrate, die ich zur mir nehme – und normale Nahrungsmitteln wie Zucker und Brot, Bohnen und sogar Milch enthalten Kohlenhydrate, die sich im Körper in Traubenzucker verwandeln – spritze ich mir die entsprechende Dosis Insulin. Ich rechne in 15er-Schritten: eine Dosis Insulin für jeweils 15g Kohlenhydrate. Zuhause kann ich die Angaben laut des Etiketts auf der Packung zusammenzählen. Doch wenn ich im Restaurant esse, sind meine Berechnungen oft nur wilde Schätzungen.

So einsam wie das Abnehmen ist Diabetes nicht. Doch es ist nicht einfach mitanzusehen, wie meine Krankheit das Leben von anderen mitbestimmt. Mein Mann legt Tabellen an und testet Apps, mit deren Hilfe wir Kohlenhydrate addieren und meinen Blutzuckerspiegel kontrollieren. Wenn wir selbst kochen, errechnet er sorgfältig die Kohlenhydratwerte jeder Zutat, um das richtige Verhältnis zu bekommen. Wenn wir auswärts essen, schätzt er mit mir meine Portion Pommes ab. Wenn ich hungrig, frustriert und genervt bin von der dauernden Zählerei, wird er zu meiner persönlichen Kohlenhydrat-Rechenmaschine.

Denn die Berechnungen müssen exakt sein. Zu wenig Insulin, und mein Blutzuckerspiegel steigt über den normaler Wert. Hält dieser Zustand zu lange an, greift der Körper wieder seine eigenen Energiereserven an. Langfristig kann das zu Hautproblemen, einem Nachlassen der Sehkraft, Komplikationen mit dem Kreislauf und sogar zu Schlaganfällen führen. Zu viel Insulin dagegen zeigt sofortig Wirkung: Der Blutzuckerspiegel sinkt, manchmal schon innerhalb weniger Minuten. Wenn er zu tief fällt, drohen Schwindelattacken, Krampfanfälle und sogar Koma. Doch selbst wenn die Symptome der Unterzuckerung weniger stark sind, fühlen meine Beine sich an wie aus Karton, und mein Kopf ist total vernebelt.

Kaum hatte ich mit dem Zählen von Kohlenhydraten angefangen, erinnerte sich mein Körper, wie es sich angefühlt hatte, als ich ständig auf Kalorien achtete. Alles, was ich heute zu mir nehme, ist in zählbare Einheiten unterteilt. Und wie früher lege ich mir wieder Beschränkungen auf. Ist es wirklich eine doppelte Dosis Insulin wert, nur damit ich diesen Keks essen kann? Möchte ich wirklich eine ganze Spritze für ein Bier verschwenden? Ich hatte einen Vertrag mit mir selbst geschlossen, um endlich Frieden mit meinem Körper zu machen, und dieser Vertag hatte einen Grundgedanken: Ich kümmerte mich nicht mehr um die Anzahl an Kalorien, die ich zu mir nahm, sondern konzentrierte mich auf die Qualität des Essens. Doch der Diabetes zwang mich, Essen wieder in Zahlen zu sehen, als eine Summe von Kohlenhydraten.

Alles, was ich durchmache, können auch Männer erleiden. Männer bekommen Essstörungen, sie haben Autoimmunerkrankungen. Dennoch sind meine Erfahrungen typisch weiblich. Drei Viertel aller Patienten mit Autoimmunkrankheiten sind Frauen. Von klein auf wird uns gesagt, unsere Körper würden nicht richtig aussehen. Als Erwachsene erleben viel zu viele von uns, dass unsere Körper auch nicht richtig funktionieren. Ich wollte Frieden mit meinem Körper schließen, doch weil ich eine Frau bin, gibt es wieder Probleme.

Seit etwas länger als fünf Monaten lebe ich mit Typ-1-Diabetes. Ich habe Menschen kennengelernt, die dies seit Jahrzehnten tun, einige schon ihr ganzes Leben lang. Für sie ist die Zählerei vor dem Essen ganz selbstverständlich geworden. Ich dagegen bin oft noch so wütend und traurig darüber, dass eine Krankheit mein Leben so schnell und radikal verändert hat. Ich sehne mich nach Leichtigkeit im Umgang mit Essen. Aber ich weiß, dass ich wieder lernen muss, mit meinem Körper zusammenzuarbeiten. Mein Körper greift sich – mich – an, aber er braucht auch meine Hilfe. Wir überleben nur, wenn wir miteinander auskommen. Ich hoffe nur, dass es nicht Jahrzehnte dauert, bis ich soweit bin.

Dieser Post wurde aus dem Englischen übersetzt von Lisa Kuppler.

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