Wie der Deutsche Bundestag MeToo-Fälle im eigenen Haus ignoriert

    In Gesprächen mit BuzzFeed News Deutschland berichten rund ein dutzend Frauen von sexueller Belästigung im Bundestag. Öffentlich sprechen wollen die wenigsten. Die Gefahr, die eigene Karriere zu gefährden, scheint zu groß. Für Betroffene gibt es zu wenig geeignete Anlaufstellen.

    Agathe arbeitet schon drei Jahre im Bundestag, als sie von einem Parteikollegen nach einer Feier nach Hause gebracht wird. Sie habe ihm den ganzen Abend nicht aus dem Wege gehen können. Ihr sei es vorgekommen, als wolle er sie möglichst öffentlichkeitswirksam erobern, ständig habe er sich neben sie gestellt. „Ich hatte gehofft, mich doch noch irgendwie herauswinden zu können”, sagt sie. „Ich hatte gehofft, er sei anständig.“

    Agathe arbeitet für eine der Oppositionsparteien und heißt eigentlich anders. Weil sie ihrer Partei nicht schaden, nicht als „Nestbeschmutzerin” gelten will, bittet sie darum, in diesem Text anonym zu bleiben. Es habe geregnet, deshalb hätten sich der Abgeordnete und sie damals vor zwei Jahren unter das kleine Vordach gestellt und eine Zigarette geraucht, so erinnert sich Agathe im Gespräch mit BuzzFeed News Deutschland. Die Taxis seien an ihnen vorbeigerauscht. „Wann steigt der endlich ein in so ein verdammtes Taxi?“, habe sie gedacht.

    Dann habe der Mann sie mit seinem Körper an die Wand gedrückt und versucht, sie zu küssen. Sie ist damals 27, der Mann Mitte 40. Er ist viel größer als sie. BuzzFeed News ist der Name des Abgeordneten bekannt.

    Sie habe sich aus seinem Griff gewunden und ihn von sich fort gedrückt. Wütend sei sie die Treppe hoch in ihre Wohnung gestürzt. „Ja“, sagt sie, wie zur Entschuldigung, „ich hatte mich nicht dagegen gewehrt, dass er mich nach Hause bringt.“ Sie habe gedacht, sie hätten ein kollegiales Verhältnis gehabt. Eines, in dem eine solche Grenzüberschreitung tabu sei. Kurz danach spricht sie mit einer Kollegin darüber. BuzzFeed News hat auch mit der Kollegin gesprochen; beide Erinnerungen decken sich.

    Erst in diesem Jahr erfährt Agathe, was der Abgeordnete damals triumphierend in der Fraktion rumerzählt haben soll: Dass sie es gewesen sei, die ihm den Kuss aufgezwängt habe, ihn gar „flachgelegt” habe. Agathe ist noch immer aufgebracht, wenn sie davon spricht. Und sie weiß noch immer keine Antwort auf die Frage, an wen sie sich damals hätten wenden sollen.

    „Wirklich ekelhaft“

    Auch im Bundestag gibt es Fälle sexueller Belästigung, von Mobbing oder anderweitigem Machtmissbrauch. Nur: Sprechen will darüber fast niemand. In den Medien gibt es bisher so gut wie keine Berichterstattung.

    BuzzFeed News hat deshalb Anfang 2018 alle Bundestagsabgeordneten angeschrieben, mit der Bitte, an einer anonymen Umfrage zu MeToo teilzunehmen. Lediglich 27 Abgeordnete meldeten sich zurück. 27 von 709.

    BuzzFeed News hat in den vergangenen Wochen außerdem knapp 60 mittlerweile aus dem Bundestag ausgeschiedene Politikerinnen kontaktiert. Auch hier melden sich bislang nur wenige zurück. Eine schreibt: „Ich bitte Sie um Verständnis, dass ich an dem Gespräch kein Interesse habe.“

    Die wenigen Frauen, die mit BuzzFeed News sprechen, tun dies fast alle unter der Bedingung, dass sie nicht namentlich genannt werden. In unseren Gesprächen wird deutlich: Keine der Politikerinnen will als Opfer gelten.

    Wer im Bundestag arbeitet, ob als Abgeordnete oder Mitarbeiterin, hat sich nicht selten gegen Widerstände in den noch immer stark männlich dominierten Strukturen dorthin gekämpft. Das wollen insbesondere Frauen nicht riskieren.

    Recherchen von BuzzFeed News zeigen zudem: Die rund 9000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundestag, in der Verwaltung, in den Fraktionen und den Abgeordnetenbüros haben kaum Möglichkeiten, sich zu beschweren. Es gibt keinen Schutz und keine Strukturen, die Betroffene unterstützen oder auffangen könnten.


    BuzzFeed News sind weitere Fälle von Belästigung und Übergriffen im Bundestag bekannt. Wir werden weiter zu diesem Thema recherchieren. Habt ihr persönlich Erfahrungen mit Belästigung im Bundestag gemacht, sind euch Fälle von MeToo bekannt oder habt ihr andere Hinweise in diesem Kontext für uns? Dann meldet euch bei unserer Reporterin Pascale Müller: pascale.mueller@buzzfeed.com

    Pascale ist auch über WhatsApp und Signal zu erreichen: +4915758473789. Für Hinweise und vertrauliche Dokumente haben wir außerdem einen anonymen und sicheren, digitalen Briefkasten.


    Eine der wenigen, die nicht schweigen will, ist Dorothee Schlegel. Die SPD-Politikerin saß bis 2017 im Bundestag, wir treffen sie an einem verregneten Februartag in Berlin. „Das Gut der absoluten Gleichheit wird nicht nur im Alltag jeder Frau verletzt, sondern auch, wenn man als Frau in der Politik arbeitet“, sagt sie im Gespräch mit BuzzFeed News. Ständiger Körperkontakt. Aufdringlichkeit bei Veranstaltungen. Zweideutiges Beäugtwerden. Es sei die Summe aus vielen kleinen Dingen, die es Frauen in der Politik schwer mache.

    „Es gab wenige Situationen in meiner politischen Karriere, aber es gab sie, die waren wirklich ekelhaft“, erinnert sich Schlegel. Später wird sie sagen, dass ihr während des Gespräches mit BuzzFeed News erst vieles wieder oder neu bewusst geworden sei. Sie habe sich auf manchen Veranstaltungen „wie Freiwild“ gefühlt. „Es herrscht noch oft ein Frauenbild vor, Frauen, die haben zu dienen, erst recht im politischen Betrieb“, fasst sie ihren Eindruck vom Frauenbild vieler Politiker zusammen.

    Schlegel sagt auch: „Irgendwann schützt das Alter.” Vielleicht habe sie auch ihr Doktortitel und ihr Engagement in der Kirche vor Übergriffen geschützt. „Doch wenn Frauen diese Attribute brauchen, dann wird Gleichberechtigung nicht gelebt und es fehlt vor allem der Respekt vor der Würde des Gegenübers.“

    BuzzFeed News sind rund ein dutzend Fälle bekannt, in denen Mitarbeiterinnen, Abgeordnete, und Praktikantinnen von Mobbing, Sexismus und sexueller Belästigung im Bundestag berichten. Genaue Zahlen dazu gibt es kaum. Das liegt auch daran, dass es keine fraktionsübergreifende Stelle gibt, bei der diese Fälle gemeldet werden könnten.

    In der gesamten vergangenen Legislaturperiode, von 2013 bis 2017, seien der Bundestagsverwaltung nur zwei Beschwerden wegen mutmaßlicher sexueller Belästigung gemeldet worden. Und im April 2018 habe eine Studentin einen möglichen Vorfall sexueller Belästigung durch einen Beschäftigten der Bundestagsverwaltung gemeldet. Seitdem seien keine Verdachtsfälle eingegangen, so eine Sprecherin der Bundestagsverwaltung gegenüber BuzzFeed News.

    „Vielerorts mangelt es noch immer an entsprechenden Meldestrukturen. Dort, wo es sie gibt, wird häufig kaum darüber informiert. Das muss sich ändern“, schreibt Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth auf Anfrage von BuzzFeed News. Über bestehende Strukturen im Bundestag sollte die Verwaltung „noch viel offensiver informieren“, schreibt Roth auf Anfrage. „In Form regelmäßiger Hausmitteilungen und Meldungen im Intranet, mit entsprechenden Aushängen, durch Schulungen.“

    Nähert man sich dem Problem rein statistisch, erscheinen die Zahlen der Verwaltung unrealistisch. Zum Vergleich ließe sich einerseits die Gesamtbevölkerung heranziehen: In einer 2015 durchgeführten Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gaben 17 Prozent der Frauen an, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren zu haben. 17 Prozent, das wären im Bundestag mehrere hundert Mitarbeiterinnen.

    Andererseits könnte man den Bundestag auch mit anderen Parlamenten vergleichen. Die Interparlamentarische Union (IPU), eine internationale Vereinigung von Parlamenten, hat in 45 europäischen Parlamenten untersucht, wie häufig Abgeordnete und Parlamentsmitarbeiterinnen mit Belästigung und Sexismus konfrontiert sind: 40 Prozent der befragten weiblichen Abgeordneten und Mitarbeiterinnen gaben an, dass sie während ihrer Arbeit sexuelle Belästigung erlebt hätten. In fast 70 Prozent der Fälle gaben die Betroffenen an, die Täter seien männliche Abgeordnete gewesen.

    Solch eine Studie wurde unter Abgeordneten und Mitarbeiterinnen des Deutschen Bundestages bislang noch nicht durchgeführt. Für die frauenpolitische Sprecherin der FDP im Bundestag, Nicole Bauer, kein Grund, das Thema nicht trotzdem anzupacken: „Nur weil ich es nicht miterlebt habe, heißt es nicht, dass es nicht passiert ist“, sagt Bauer in einem Interview mit BuzzFeed News. „Wir müssen auch unangenehme Diskussionen führen.”

    Wer sich über seinen Abgeordneten beschweren will, kann dies oft nur bei dem Abgeordneten selbst tun

    Um zu verstehen, warum sich so wenige Betroffene melden, muss man wissen, wie der „Arbeitgeber Bundestag“ aufgebaut ist. Grundsätzlich gibt es drei Arten von Angestellten im Bundestag:

    • Es gibt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die direkt bei den Abgeordneten angestellt sind. Im Bundestag sind das laut Pressestelle des Bundestags 2762.

    • Dazu kommen Mitarbeiterinnen in den Wahlkreisbüros: 2574.

    • Sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung: 2979.

    • Hinzu kommen noch die Mitarbeiter der Fraktionen.

    Egal zu welcher Gruppe man gehört: Die Vertretungsstrukturen all dieser Mitarbeiter sind lückenhaft. Besonders schlecht geschützt sind die knapp 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Abgeordnetenbüros.

    Rechtlich betrachtet handelt es sich bei jedem der 709 Büros um einen eigenständigen Kleinbetrieb. Das heißt: Wer sich über seinen Abgeordneten beschweren will, kann dies nur bei dem Abgeordneten selbst tun. Es ist deshalb kaum möglich, einen Abgeordneten zur Rechenschaft zu ziehen, der sich übergriffig oder missbräuchlich verhalten hat. Ein Mitarbeitervertreter aus der SPD sagte gegenüber BuzzFeed News: „Es gibt keine accountability hier.“ Rechenschaftspflichtig sei hier niemand. In Gesprächen mit der Pressestelle der Bundestagsverwaltung und den Fraktionen wird immer wieder klar, dass sich niemand für diese Mitarbeiter zuständig fühlt. Die Verantwortung schieben sich alle gegenseitig zu.

    Viele Vorfälle werden deshalb nur innerhalb der Büros bekannt – und bleiben dort. Das macht es für Medien sehr schwer, darüber zu berichten. Einen der wenigen Beiträge zu dem Problem veröffentlichte der WDR, der 2017 mit hochrangigen Politikerinnen aller Fraktionen gesprochen hat. In den Interviews geht es aber ausschließlich um Sexismus – und niemand nennt Namen.

    „Meiner Meinung nach hat die SPD-Bundestagsfraktion ein Sexismus-Problem“

    International wird die Debatte längst konkreter geführt: Im Herbst 2017 hatten mehr als 80 Frauen und Männer, die im EU-Parlament arbeiten, anonym berichtet, dass sie dort Opfer von sexuellen Übergriffen und Sexismus geworden seien. In Frankreich erhob eine Frau Vorwürfe gegen den Finanzminister Gérald Darmanin. Sie gab an, dass Darmanin sie vergewaltigt habe. In Großbritannien legten der Verteidigungsstaatssekretär Michael Fallon, der Justizminister Dominic Raab sowie der Entwicklungsminister Rory Stewart nach Vorwürfen sexueller Belästigung ihr Amt nieder. Damian Green, Theresa May’s Stellvertreter, musste ebenfalls seinen Posten räumen, nachdem eine Aktivistin ihm Belästigung vorgeworfen hatte und er zudem auf seinem Arbeitscomputer Pornos geschaut haben soll.

    In Schweden sprachen hunderte Frauen – darunter Schauspielerinnen, Sportlerinnen und Politikerinnen – öffentlich über sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung. Das schwedische Parlament verschärfte daraufhin das Sexualstrafrecht.

    Nur wenige deutsche Politikerinnen setzen sich für eine Gesetzesänderung ein und thematisieren das Problem offensiv. Eine von ihnen ist Justizministerin Katarina Barley (SPD). In der Politik würden Frauen häufig mit Bemerkungen über ihr Äußeres und ihr Auftreten sexuell erniedrigt, sagte die Justizministerin Katarina Barley Ende 2017 dem „Spiegel“. Aus der Gesetzesänderung, die Barley forderte, ist bisher nichts geworden.

    „Jeder scheint diesen Mann mit sexistischen Kommentaren in Verbindung zu bringen“

    Um herauszufinden, ob es im Bundestag Sexismus und sexualisierte Gewalt gibt, hat BuzzFeed News Anfang 2018 alle damaligen Abgeordneten angeschrieben. Lediglich 27 Personen antworten, 10 Männer und 17 Frauen aus allen Fraktionen, außer der AfD. Viele schreiben über Sexismus, auch drei konkrete Übergriffe werden geschildert.

    Eine Befragte schreibt: „Meiner Meinung nach hat die SPD-Bundestagsfraktion ein Sexismus-Problem. Während ich nie sexualisierte Übergriffe erfahren habe, sind Alt-Herren-Witze und sexistische Kommentare doch viel zu oft an der Tagesordnung, vor allem MdB-Mitarbeiterinnen gegenüber.“

    Eine andere Person schreibt über einen langjährigen Abgeordneten der Linken: „Jeder scheint diesen Mann mit sexistischen Kommentaren in Verbindung zu bringen, viele erzählten dazu Geschichten.“ Der Mann sei zu einflussreich, als dass man sich dagegen wirksam beschweren könnte. Es wüsste sowieso jeder, wie er drauf sei, das sei ein offenes Geheimnis. In jeder neuen Legislatur würde er junge neue weibliche Abgeordnete der Fraktion anbaggern. Eine weitere Abgeordnete der Linken bestätigt BuzzFeed News gegenüber, dass sie vor genau diesem Politiker gewarnt worden sei.

    Oftmals bleibt es bei diesen anonymen Hinweisen oder Hintergrundgesprächen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einige haben Gerüchte gehört, wissen aber zu wenig Konkretes, um öffentlich darüber zu sprechen. Andere haben selbst schon Erfahrungen mit sexueller Belästigung durch Kollegen gemacht, befürchten aber, dass ihnen das öffentliche Sprechen darüber als politisches Manöver ausgelegt wird. Es gibt Personen, die wollen nicht über Einzelfälle diskutieren, sondern über strukturelle Probleme. Und wieder andere sagen in Telefonaten oder persönlichen Gesprächen mit BuzzFeed News zunächst, ihnen sei nie etwas derartiges passiert, beschreiben im Anschluss aber Vorfälle, die klar als Belästigung zu werten sind.

    So berichtet eine ehemalige Unionsabgeordnete BuzzFeed News am Telefon, sie habe durchaus „eindeutige Angebote“ von männlichen Kollegen bekommen, etwa, ob sie noch eine „Privatparty“ feiern wolle.

    Besonders betrifft übergriffiges Verhalten aber offenbar nicht weibliche Abgeordnete selbst, sondern die Mitarbeiterinnen von Abgeordneten. Auch die FDP-Abgeordnete Nicole Bauer sagt: „Missbrauch geschieht häufig da, wo starke Machtunterschiede herrschen.“

    „Und die Kollegin? Ist die tierlieb?“ – „Tierlieb?“ – „Na gut zu vögeln“

    Agathe, die ein Abgeordneter gegen ihren Willen küssen wollte, tauscht sich regelmäßig mit einer Kollegin über das aus, was Mitarbeiterinnen im Bundestag erleben. Die Kollegin berichtet BuzzFeed News von einem Mitarbeiter, der „stalking-mäßig” überall da aufgetaucht sei, wo sie gerade war. „Auch auf der Straße, sogar mal auf einem Spielplatz, wo ich mit meinem Kind war”, sagt sie.

    Nach vielen Jahren im Bundestag resümiert sie: „Wenn eine Frau optisch den Ansprüchen als fickbar nicht genügt, ist sie automatisch dumm.” Gespräche wie: „,Und die Kollegin? Ist die tierlieb?’ – ,Tierlieb?‘ – ,Na gut zu vögeln‘“ oder Sprüche wie: „Die Abgeordnete setzt sich doch bei ihrem Büroleiter aufs Gesicht” seien an der Tagesordnung. Seit Jahren sähe sie niemanden mehr an, starre in Fluren oder Fahrstühlen auf ihr Handy, um die Blicke der Männer ihrer und anderer Fraktionen nicht sehen zu müssen.

    Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass Frauen den Bundestag verlassen. Wie Lisa Bremer. Auch ihr Name ist geändert, weil sie für sich mit der Sache abgeschlossen hat. Vor mehr als sechs Jahren arbeitete sie bei einem Abgeordneten der Union, der sie über Monate in eine Affäre drängen wollte, wie sie BuzzFeed News in einem Interview erzählt. Als sie nicht darauf einging, sei das Ganze in „Psychoterror und Mobbing“ gekippt. BuzzFeed News ist der Name des Abgeordneten bekannt, auch weitere Details aus dem Fall liegen der Redaktion vor – inklusive weiterer Quellen, von denen Lisa angibt, dass diese das Verhalten bestätigen könnten. Bremer geht zum Psychosozialen Dienst des Bundestages. Sie hatte auf Hilfe gehofft. Stattdessen habe man ihr zu einer Kündigung geraten.

    Während der #MeToo-Debatte in den USA habe sie darauf gewartet, dass auch Frauen aus dem Bundestag öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen. Dann, so sagt sie, hätte sie ihre Geschichte auch mit Namen öffentlich gemacht. Doch es blieb still.

    Jetzt wolle sie nicht weiter anklagen, schreibt sie BuzzFeed News. Der Bundestagsabgeordnete, der sie belästigt haben soll, sitzt weiterhin im Parlament – sie hat am Ende gekündigt.

    „Wenn das einmal raus ist, brauchst du hier nicht zu bleiben“, sagt auch Oliver Stegemann. Stegemann ist seit mehr als zehn Jahren in der Mitarbeitervertretung der Sozialdemokraten aktiv, die sich auch mit Mitarbeitervertretern von Grünen und Linken vernetzt. Er setzt sich seit langem dafür ein, dass sich die Vertretungsstrukturen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundestag verbessern. „Wir müssen für die Leute, die so einen Chef haben und die sonst sofort rausflögen, für die müssen wir doch was tun“, sagt Stegemann.

    Bei der SPD gibt es eine Schlichtungskommission für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die potentiell ein Ort für Beschwerden wäre. Stegemann vertritt dort die Arbeitnehmerseite. Die Kommission gibt es schon sehr lange, früher hieß sie Konfliktkommission. Seit einigen Jahren würden die Auseinandersetzungen von beiden Seiten aber härter geführt, sagt Stegemann. „Meine Erfahrung der letzten fünf Jahre ist: Es kriegen vor allem die Frauen ab.“ Man habe daher Änderungen vorgenommen, um schon frühzeitig unterstützen zu können. Seit 2017 habe es rund 20 bis 30 Schlichtungsfälle gegeben, in einigen davon sei es um Mobbing innerhalb der Abgeordnetenbüros gegangen.

    Doch das Schlichtungsverfahren basiert auf Freiwilligkeit. Es braucht die Anzeige durch den Mitarbeiter und die Kooperationsbereitschaft des Abgeordneten. Ein Abgeordneter, der sich zuvor missbräuchlich gegenüber einer Mitarbeiterin verhalten hat, müsste also selbst zustimmen, dass es darüber zu einem Schlichtungsverfahren kommt. Tut er es nicht, gibt es keines.

    Stegemann kann sich nur an einen Fall erinnern, in dem es um sexuelle Belästigung ging, der allerdings schon viele Jahre zurückliege. In dem betreffenden Büro habe es eine Gehaltserhöhung gegeben. Der Abgeordnete habe der Mitarbeiterin daraufhin gesagt, dass, wenn sie nun mehr Geld bekommt, es ja auch mit der Affäre klappen müsste. Die Mitarbeiterin sei dann gegangen.

    Generell könne er sich schwer vorstellen, dass sich eine betroffene Frau an die Schlichtungskommission wendet, denn ihr gehört nur eine Frau an. „Ich sehe das Problem auch“, sagt Stegemann.

    Ähnliche Debatten gibt es derzeit auch im Europa-Parlament. Dort hatten deutsche Unions-Abgeordnete kürzlich erst eine Änderung der Geschäftsordnung verhindert, die verpflichtende Schulungen zum Umgang mit Mitarbeitern eingeführt hätte.

    „Wo Arbeitnehmer dem Arbeitgeber so ausgeliefert sind, da kann ich mir nicht vorstellen, dass die das nicht ausnutzen“

    Die Grünen haben einen Betriebsrat für Beschäftigte der Fraktionen, in den auch Interessensvertreter der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Abgeordneten gewählt werden. Die Linke hat sowohl einen Betriebsrat für Fraktionsmitarbeiter, als auch einen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten. Auch der Betriebsrat wäre theoretisch ein Ort für eine Beschwerdestelle. Aber im Betriebsrat der Linken sind bei weitem nicht alle Büros vertreten. Bekannte Gewerkschafter wie Klaus Ernst oder Alexander Ulrich ermöglichen es ihren Mitarbeitern nicht, sich im Betriebsrat zu organisieren. Das zeigt, gegen welche Windmühlen die Angestellten kämpfen müssen, um Unterstützung zu bekommen.

    Für den Arbeitsalltag bedeutet das: Wenn es innerhalb der Büros zu Konflikten oder Fehlverhalten kommt, gibt es niemanden, der für die Betroffenen zuständig ist. Und selbst wenn Fehlverhalten bekannt wird, wird von Kollegen und anderen Abgeordneten oft weggeschaut. So auch in einem Fall, bei dem es zwar nicht um sexuelle Belästigung, aber um Mobbing ging.

    Petra Hinz, die bis 2016 für die SPD im Bundestag saß, soll ihre Mitarbeiter über Jahre drangsaliert und unter Druck gesetzt haben. Heraus kam das alles nur, weil Hinz falsche Angaben in ihrem Lebenslauf gemacht hatte – und sich ehemalige Mitarbeiter an die Medien wandten. Stegemann sagt, der Fall habe ihn nicht überrascht. Hinz sei einer der „schlimmsten Arbeitgeberfälle hier im Haus“ gewesen. Mitarbeiter hätten sich abmelden müssen, wenn sie auf Toilette gingen. Die Fraktion habe „bewusst weggeguckt“.

    Ein beinahe feudales Machtgehabe

    Der Fall Hinz zeigt: Wenn Abgeordnete nicht von sich aus gute Chefs sind, dann macht sie niemand dazu. Karin Thissen, bis 2017 SPD-Bundestagsabgeordnete aus Schleswig-Holstein, sagt BuzzFeed News: „Die SPD legt schon sehr viel Wert darauf, dass die Abgeordneten als Arbeitgeber eine gute Figur machen. Auf der anderen Seite wird man da gar nicht drauf vorbereitet.“

    All diese strukturellen Defizite ermöglichen es, dass zum Teil ein beinahe feudales Machtgehabe entsteht. „In so einem Arbeitsverhältnis, wo Arbeitnehmer dem Arbeitgeber so ausgeliefert sind, da kann ich mir nicht vorstellen, dass die das nicht ausnutzen“, sagt die ehemalige SPD-Abgeordnete Karin Thissen im Gespräch mit BuzzFeed News. Ein Politiker berichtet BuzzFeed News von Kollegen, die Mitarbeiterinnen ihre privaten Einkäufe und Finanzen organisieren lassen. Wo es keine Trennung zwischen Privatem und Beruflichem gibt, da liegt eine Grenzübertretung nahe.

    Dass nicht nur Parteien weggucken, sondern zuweilen auch die Öffentlichkeit nicht hinsieht, wenn es darum geht, wie männliche Abgeordnete sich Frauen gegenüber verhalten, zeigt der Fall Patrick Sensburg. Der Unions-Politiker gewann 2017 erneut ein Direktmandat, obwohl zwei Jahre zuvor bekannt geworden war, dass er seine Freundin „rabiat“, wie er zugab, „aus der Wohnung geschmissen“ hatte. Das Verfahren wurde eingestellt, nachdem seine Freundin die Anzeige zurückgezogen hatte. Einen Imageschaden hat er offenbar nicht davon getragen. Aktuell ermittelt die Staatsanwaltschaft München gegen einen Unionskollegen Sensburgs wegen des Vorwurfs häuslicher Gewalt. Das bestätigt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft auf Anfrage. BuzzFeed News ist der Name des Abgeordneten bekannt.

    In der Bundestagshierarchie noch weiter unten stehen Praktikantinnen. In vielen Gesprächen mit BuzzFeed News erwähnen Abgeordnete, dass vor allem sehr junge Frauen von Belästigung betroffen sind. Als BuzzFeed News eine Umfrage zum Thema Belästigung in die größte Facebook-Gruppe für Praktikantinnen und Praktikanten des Bundestags postet, schreibt innerhalb weniger Minute eine Frau über einen konkreten Fall sexueller Belästigung durch einen SPD-Abgeordneten. Die Belästigung habe sie im Sommer 2017 als studentische Mitarbeiterin im Bundestag erlebt.

    „Wir sind zusammen Aufzug gefahren. Ich hatte, wie im Sommer üblich, ein Kleid an. Daraufhin sagte er zweimal, dass Abgeordnete ja auch im Sommer keine kurzen Hosen tragen dürften und unter dem Kleid bräuchte ich ja nicht mal einen Slip.“

    Wenige Minuten später wird der Beitrag von den Administratoren der Gruppe gelöscht. BuzzFeed News hat die Administratoren der Seite angefragt, warum das passiert ist. Einer der Administratoren schreibt BuzzFeed News, dass er den Post nicht gelöscht habe und es schwer nachzuvollziehen sein, warum dies geschehen sein. Er halte es aber für wichtig sich dem Thema anzunehmen.

    Die Frau kommt nicht dazu, die Umfrage zu Ende auszufüllen oder einen Kontakt zu hinterlassen. BuzzFeed News war es nicht möglich, die Vorwürfen nachzurecherchieren, weshalb auch der Name des Abgeordneten hier ungenannt bleibt.

    Die letzte Frage, die die Frau vor dem Löschen der Umfrage beantwortet: „Hatte der Vorfall Auswirkungen auf Ihr Praktikum oder den weiteren Verlauf Ihrer Arbeit im Bundestag?”

    Ihre Antwort: Ja.


    UPDATE

    Die Grünen haben eine Betriebsrat für Fraktionsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, in den auch Interessensvertreter der Beschäftigten in den Abgeordnetenbüros gewählt werden. Dies haben wir ergänzt.

    UPDATE

    Eine der Administratoren der Facebook-Gruppe für Praktikanten im Bundestag hat BuzzFeed News nach Veröffentlichung geantwortet. Die Antwort wurde im Text ergänzt.

    BuzzFeed News sind weitere Fälle von Belästigung und Übergriffen im Bundestag bekannt. Wir werden weiter zu diesem Thema recherchieren. Habt ihr persönlich Erfahrungen mit Belästigung im Bundestag gemacht, sind euch Fälle von MeToo bekannt oder habt ihr andere Hinweise in diesem Kontext für uns? Dann meldet euch bei unserer Reporterin Pascale Müller: pascale.mueller@buzzfeed.com

    Pascale ist auch über WhatsApp und Signal zu erreichen: +4915758473789. Für Hinweise und vertrauliche Dokumente haben wir außerdem einen anonymen und sicheren, digitalen Briefkasten.