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13 Fragen an einen Seenotretter, der auf dem Mittelmeer war

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„Hätten wir wirklich Kontakt zu den Schleppern, dann würden nicht so viele Menschen ertrinken.“

Johann Pätzold ist von Beruf Komponist und hat als Seenotretter auf der Sea Eye gearbeitet. Er war dabei, als Menschen aus dem Mittelmeer gerettet wurden. Und auch, als Menschen gefunden wurden, denen man nicht mehr helfen konnte.

Warum die Seenotretter nicht mit den Schleppern zusammenarbeiten? Was man als Seenotretter so verdient? Und warum sie die Leute nach Europa fahren, statt an die näher gelegene afrikanische Küste? Hier antwortet Johann Pätzold auf 13 Vorwürfe, die Seenotrettern heute gemacht werden

1. Seenotretter sind der Pull-Faktor: Wegen euch kommen immer mehr Menschen – weil die damit rechnen können, dass sie gerettet werden.

BuzzFeed.de © Kommentar des Nutzers "Danilo" unter volksverpetzer.de / Via volksverpetzer.de

„Das Mittelmeer ist kein kleines Planschbecken, das ist ein riesengroßes Meer – und wenn da zehn Schiffe rumfahren, ist es trotzdem wahnsinnig unwahrscheinlich, dass man auf dem offenen Meer entdeckt wird.

Als wir damals angefangen haben, zu retten, waren schon mehrere zehntausend Menschen ertrunken. Die Hilfsorganisationen haben sich erst gegründet, nachdem die Menschen eben schon in Massen ertrunken sind. Die kommen also nicht wegen uns.

Unsere Präsenz hat außerdem seit Anfang diesen Jahres extrem nachgelassen. Wir haben gerade massive Probleme mit der italienischen Justiz und mit der EU. Und die Menschen fahren trotzdem raus – und ertrinken jetzt gerade.“

2. Ihr arbeitet doch mit den Schleppern zusammen.

„Nein, das machen wir nicht. Wir haben keine Telefonnummern. Wir haben keinen E-Mail-Kontakt. Keinen Funkkontakt. Wir haben nicht mal Lichtsignale. Wir haben nichts. Wenn ein Boot rauskommt, dann ist es immer Glück, wenn wir es finden.

Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass wir erst durch MRCC Rom (die Seenotrettungsleitstelle für das Mittelmeer) informiert werden – oder eben nur noch die Leichen und gekenterten Boote auf dem Meer finden. Also: hätten wir wirklich Kontakt zu den Schleppern, dann würden nicht so viele Menschen ertrinken.“

3. Aber angeblich haben doch Leute beobachtet, wie Lichtsignale ausgetauscht werden?

„Wenn wir abends eine Rettungsaktion durchführen, ist es ziemlich blöd, wenn man nichts sieht. Und nachts, wenn der Mond nicht scheint, ist es zappenduster auf dem Mittelmeer. Da siehst du gar nichts mehr. Es ist schwarz. Wir brauchen also Licht. Und natürlich haben wir dann Scheinwerfer an, um die Boote zu fixieren. Wir dürfen die nicht aus den Augen verlieren, weil wenn wir die einmal verloren haben, dann sind die weg. Und dann ertrinken sie meistens.

Zu den angeblichen Signalen aber: Würden wir konzentrierte Lichtstrahlen an Land senden, nach Libyen, dann könnte man das dort gar nicht sehen. Weil da die Erdkrümmung dazwischen ist und wir mit unserem Schiff weit hinter dem Horizont liegen. Ein Mathematiker hat das für uns mal ausgerechnet: Unser Mast müsste mindestens 30 Meter hoch sein, damit man überhaupt die Chance hat, in Libyen etwas zu sehen. Das geht also gar nicht.“

Ein vom Rettungsschiff „Open Arms“ aus am 17. Juli 2018 aufgenommenes Foto. Zuvor hatte die libysche Küstenwache dort Flüchtlinge von einem Gummiboot aufgegriffen und zwei Leichen sowie eine noch lebende Frau zurückgelassen.
Ein vom Rettungsschiff „Open Arms“ aus am 17. Juli 2018 aufgenommenes Foto. Zuvor hatte die libysche Küstenwache dort Flüchtlinge von einem Gummiboot aufgegriffen und zwei Leichen sowie eine noch lebende Frau zurückgelassen. © Juan Medina / Reuters

4. Warum bringt ihr denn die Leute nach Europa? Die afrikanischen Häfen sind doch viel näher. So seid ihr doch eine Art Shuttle-Service?

„Erstens: Unser ursprünglicher Auftrag war die Seenotrettung. Wir sind an die Boote herangefahren, haben die Leute erstversorgt und dann die Seenotrettungsleitstelle MRCC in Rom informiert, dass wir hier Geflüchtete haben. Dann sind offizielle Schiffe gekommen und haben die Flüchtlinge übernommen.

Das ist heute nicht mehr möglich, weil wir einen sogenannten „Code of Conduct“ unterschreiben mussten. Den hat Italien diktiert und der zwingt uns, die Menschen selbstständig nach Europa zu fahren. Wir wollten das nicht unterschreiben, wir haben uns dagegen gewehrt – leider ohne Erfolg.

BuzzFeed.de © Kommentare auf der Facebook-Seite von BuzzFeed News. / Via Facebook: BuzzFeedDENews

Zweitens: Nach Afrika dürfen wir die Menschen gar nicht bringen. Libyen ist als nicht sicher eingestuft. Würden wir nach Libyen reinfahren, würden wir in Teufels Küche kommen. Wahrscheinlich würden uns die Libyer gleich mit einsperren. Und wenn nicht das, dann würden wir in Europa eingesperrt werden, weil wir gegen internationales Recht verstoßen haben.

Das MRCC Rom teilt uns den Hafen mit, den wir anzusteuern haben. Und da gibt’s keine Diskussion. Nach Tunesien konnten wir auch nie fahren. Das MRCC Rom hat uns das niemals gestattet. Und selbst wenn: Wir würden mit den Tunesiern in den Konflikt kommen, weil die ihre Häfen für uns gesperrt und kein Einwanderungsgesetz haben.“

5. Es gibt ja internationale Regeln, die sagen: Wer einen Flüchtling aufgenommen hat, der darf sich selbst aus eigener Kraft keinen Meter mehr bewegen. Ihr macht das jetzt aber doch. Also arbeitet ihr illegal?

„Der Auftrag 'Seenotrettung' ist zivile Pflicht. Da hat jeder zu handeln, man muss dorthin fahren und diese Menschen aus dem Wasser ziehen. Das passiert in der Ostsee, in der Nordsee, im Atlantik, im Pazifik, selbst im See nebenan.

Flüchtlinge oder Migration aber ist Behördensache. Das heißt: wir führen die Seenotrettung durch, und dann ist unser Job eigentlich beendet. Dann müssten eigentlich ein Schiffe von Frontex oder der NATO oder einer Küstenwache kommen – und diese Menschen aufnehmen.

Wir müssen aber jetzt diese Menschen nach Europa bringen, weil wir diesen „Code of Conduct“ unterschreiben mussten. Und wir fühlen uns wirklich nicht wohl damit. Das hat zweierlei Gründe. Erstens: In der Zeit, in der wir nach Europa fahren, können wir keine Rettungseinsätze machen. Dann sind wir 4 Tage unterwegs, und in diesen 4 Tagen ertrinken Menschen. Und Nummer zwei: Wir sind rechtlich auf ganz dünnem Eis, weil wir uns eben eigentlich keinen Meter mehr bewegen dürfen, sobald wir einen Flüchtling an Bord haben. Das einzige Wort, was mir dazu einfällt, ist: schizophren.“

6. Libyen hat doch eine Küstenwache. Warum müsst ihr denn dann da rumfahren?

Ein Boot der libyschen Küstenwache läuft am 29. Juni 2018 in Tripolis ein. An Bord einige Dutzend Flüchtlinge, die auf dem Meer aufgegriffen wurden.
Ein Boot der libyschen Küstenwache läuft am 29. Juni 2018 in Tripolis ein. An Bord einige Dutzend Flüchtlinge, die auf dem Meer aufgegriffen wurden. © Ismail Zitouny / Reuters

„Die Küstenwache in Libyen arbeitet mit den Schleppern zusammen. Die ist nicht der Einheitsregierung unterstellt, sondern irgendwelchen Clans und Warlords.

Die libysche Einheitsregierung hat auch nur einen Bruchteil des Landes unter Kontrolle. Und diese Warlords machen ein Riesengeschäft mit Menschenschmuggel. Diese Küstenwache ist keine Küstenwache, auch wenn sie krasse Schiffe von Europa bekommen hat.“

7. Aber es gibt doch

sogar ein Video

, das angeblich zeigt, wie Seenotretter sich in Rettungsaktionen der Libyer einmischen.

„Das von damals, als die Sea-Watch angeblich auf Kollisionskurs mit der libyschen Küstenwache war? Das war ein bisschen anders. Die Sea Watch hatte von MRCC Rom einen Einsatzbefehl bekommen. Sie sollte zu den Koordinaten fahren, dort wurde ein verdächtiges Objekt gemeldet. Und MRCC Rom scheint wohl denselben Einsatzbefehl auch der sogenannten libyschen Küstenwache gegeben zu haben.

Die kam dann auch. Die Sea Watch war da quasi fast im Stillstand. Und die Küstenwache ist auf Kollisionskurs mit der Sea Watch gegangen und hat den Bug der Sea Watch angesteuert. Die Sea Watch konnte in diesem Moment nicht mehr handeln, weil das Schiff keinen Vortrieb mehr hatte – dann kann man nicht mehr steuern, man ist dann quasi manövrierunfähig. Hätten die die Sea Watch gerammt, wäre die untergegangen. Dieser Winkel... das hätte den Bug abgerissen und das Schiff der Küstenwache wäre einfach durchgefahren.

Kein Schiff, kein ziviler Kapitän möchte sich mit Bewaffneten auf irgendeinem libyschen Küstenwachenschiff anlegen. Auf der Sea Watch, das sind Familienväter, das sind ganz normale Menschen, Leute wie du und ich. Die haben keine Lust, auf dem Mittelmeer umgebracht zu werden.“

8. Was man auch immer wieder hört: Die Flüchtlinge würden absichtlich so schlechte Boote benutzen, damit sie möglichst schnell als seeuntüchtig gelten und gerettet werden müssen.

„Nicht absichtlich, aber denen bleibt keine andere Wahl mehr, weil sie keine anderen Boote mehr haben. Wir haben jahrelang die stabilen, seetüchtigen Holzboote zerstört, nachdem wir die Menschen gerettet haben, weil die Schlepper diese Boote gern zurückgeholt und dann neue Menschen draufgesetzt haben. Wenn man das weiß, möchte man das natürlich unterbinden. Darum haben wir diese Boote zerstört und versenkt. Und hätten wir das nicht gemacht, dann hätten Frontex oder die italienische Küstenwache das getan.

Und dann hatten wir plötzlich diese Situation, dass da irgendjemand diese kleinen Schlauchboote für einen Apfel und ein Ei an die Libyer verkauft. Damit konnten wir nicht rechnen. Das ist uns selbst bewusst geworden, als es längst zu spät war.“

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9. Wie gut verdient man denn als Seenotretter so?

„Also: Ich bin runtergeflogen, das Ticket hat mich 400 Euro gekostet. Dann gibt’s kostenlos Essen auf dem Schiff. Dann habe ich festgestellt, dass ich für den Rückflug kein Geld mehr hatte.

Da bin ich dann mit so einem Fernbus bis nach München, weil das war sehr viel billiger. Ich hatte noch so 150 Euro und der Bus kostete 30 Euro. Und dann bin ich in Deutschland halb per Zug, halb trampend, irgendwie nach Rostock gekommen, weil ich pleite war. Also: wir verdienen nichts.“

10. Aber die Schlepper verdienen ja gut. Also könnte man sagen: Es dürfen nur die kommen, die sich’s auch leisten können?

„Die triggert mich, die Frage. Klar: die Menschen bezahlen diese Überfahrt. Auch in Afrika verdient man Geld, man handelt da nicht mit Steinen. Nur gibt’s da halt leider kein Reisebüro, in das man reinspaziert und sagt: Ich würde gern nach Europa fliegen. Und wenn man die Balkanroute schließt, dann bleibt eben nur noch der Weg über’s Mittelmeer.“

11. Stichwort Meer: Manche sagen ja auch, wer nicht schwimmen kann, und sich trotzdem in ein Boot setzt, der ist im Zweifel selber schuld?

Das Bild entstand am 19. Juni 2018, nachdem ein Flüchtlingsboot Nahe der Küstenstadt Almayuh westlich von Tripolis gesunken war.
Das Bild entstand am 19. Juni 2018, nachdem ein Flüchtlingsboot Nahe der Küstenstadt Almayuh westlich von Tripolis gesunken war. © Hani Amara / Reuters

„Was soll man da noch sagen… Manche werden mit Waffen auf die Boote gezwungen. Es gibt Folter, Vergewaltigung, Menschenhandel.

Viele sehen das Meer auch zum ersten Mal. Die haben oftmals keine Ahnung, wie es sich mit Wasser verhält; dass sie keinen Auftrieb haben, wenn sie ins Wasser fallen.

Das ist so, als ob man uns das erste Mal in die Wüste schickt und wir plötzlich begreifen: 'Oh, Mist, hier bekomme ich ein Problem.' Man überschätzt sich vielleicht auch selbst, mag sein. Wenn man aber erst in dem Moment merkt, dass man nicht schwimmen kann, weil man gar nicht weiß, dass man gar nicht schwimmen kann, dann kann man das den Menschen schwer zum Vorwurf machen.“

12. Rechtspopulisten sagen, sie seien die Stimme der schweigenden Mehrheit. Einer Mehrheit, die diese Politik ablehnt. Stimmt das?

„Die schweigende Mehrheit? Die hilft gerade den Flüchtlingen und hat nur keine Zeit, sich zu Wort zu melden, weil sie den Job des Innenministers übernimmt. Und weil sie den Job übernimmt, den die AfD gerade versucht, kaputt zu machen. Nee, die schweigende Mehrheit ist auf jeden Fall da und versucht gerade, in Europa zu löschen, wo es gerade brennt.“

13. A propos Innenminister: Warum

denkt der Bundesinnenminister

, dass die Crew der „Lifeline“, wie er sagt, „zur Rechenschaft gezogen“ werden müsse?

„Ich hab die Frage schonmal beantwortet und ich hadere, ob ich sie nochmal beantworten soll.“

Wie hast du sie damals beantwortet?

„Weil er ein Arschloch ist.“

Und wie würdest du sie heute beantworten?

„Immer noch: Weil er ein Arschloch ist.“

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