Exklusiv: Psychopharmaka-Missbrauch in EU-Flüchtlingslager

    Das Bild zeigt die Küste der Türkei. Auf der anderen Seite beginnt Europa. Dazwischen sind keine vier Kilometer Meer - und die Boote der Küstenwache. Eine Recherche von BuzzFeed News zeigt nun: In einem EU-Flüchtlingslager wird "Lyrica" verteilt. Ein Medikament, das abhängig machen kann. Mittlerweile gibt es Missbrauch, Dealer und einen Schwarzmarkt.

    In einem EU-Flüchtlingslager in Griechenland verteilen Behörden und Hilfsorganisationen Psychopharmaka an Flüchtlinge - ohne angemessene therapeutische Begleitung. Mittlerweile kommt es zum Missbrauch: Für das Präparat "Lyrica" gibt es nun einen Schwarzmarkt, Dealer und Flüchtlinge, die befürchten, abhängig zu sein.

    “Wir haben keinerlei Informationen über den Missbrauch von verschreibungspflichtigen Medikamenten”, erklärte das UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR gegenüber BuzzFeed News. “Ärzte der Welt”, als Partnerorganisation des UNHCR zuständig für die Gesundheitsversorgung im Lager Vial, ist das Problem hingegen sehr wohl bekannt. Auch im Lager bestätigen die Flüchtlinge den Handel mit den Pillen.

    Für die Recherche haben Reporter von BuzzFeed News Deutschland mit Geflüchteten, Ärzten, Psychologen, NGOs, freiwilligen Helfern sowie dem UNHCR und griechischen Behörden gesprochen - und sind dafür auf die Inseln Lesbos und Chios geflogen.


    “Sie nehmen sie nicht wie Medizin. Sie nehmen sie wie Drogen.”

    Hinter Stacheldraht steht eine alte Fabrikhalle. Ringsherum sind rund 70 Container aufgestellt. Zu wenig. Mittlerweile stehen auch außerhalb des Zauns große, weiße Zelte und Planen mit dem UNHCR-Logo. Manche Menschen aber haben hier nicht mal einen Platz einem der kleinen Iglu-Zelte, die Flüchtlinge privat aufgestellt haben. Wer “Glück” hat, schläft mit einem Dutzend anderer in einem der rund 10 Quadratmeter großen Container: ohne Wasser, mit aufgehängten Decken als Trennwand. Überall Matsch.

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    Ein Junge spielt mit dem Deckel einer Wasserflasche in einer Pfütze. Kinder wärmen sich an Lagerfeuern aus Plastikmüll. Auffällig viele Menschen haben keine Schuhe, nur Flipflops. Das Essen schiebt sich rein, wer es noch runter kriegt. Hier, im Flüchtlingslager Vial auf der griechischen Insel Chios, leben über 2.000 Menschen. Für manche ist es schon der zweite Winter hier.

    Auf “Where are you from?” lautet die Antwort meist “Syria”; auch Irak, Jemen, Äthopien sind dabei. Viele hier sind vom Krieg traumatisiert oder haben rohe und sexualisierte Gewalt erlebt. Mit der Angst im Nacken, abgeschoben zu werden, sitzen die Menschen hier fest.

    "Die Menschen hier sind nicht stabil"

    Einige haben jede Hoffnung verloren. Im März hat sich hier jemand angezündet. Der Mann hat nicht überlebt.

    “Nach Inkraftreten des EU-Türkei-Deals, als die Grenzen geschlossen wurden, gab es hier deutlich mehr Selbstmordversuche, als vorher”, sagt Natalia Argyrou. Für die Hilfsorganisation “Ärzte der Welt” ist sie im Lager Vial als Psychologin im Einsatz. “Ich vermeide es, über traumatische Erfahrungen mit Insassen zu reden. Die Menschen hier sind nicht stabil. Es gibt keine Kontinuität. Und darum ist eine Psychotherapie unter diesen Bedingungen nicht ideal. Wir vermeiden sie.”

    Viel kann Natalie Argyrou hier nicht tun. Mit manchen macht sie Atemübungen. Anderen gibt sie Tabletten, um notdürftig Panikattacken, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen zu behandeln: Lyrica zum Beispiel. Ein Medikament gegen Angststörungen, Schmerzen und Epilepsie.

    Man muss nicht lange suchen, um im Lager Vial auf Menschen zu treffen, denen Lyrica ein Begriff ist. Eine Gruppe junger Männer sitzt auf Steinbrocken an den Resten eines Lagerfeuers. Alle nicken, als wir danach fragen. “Das ist ein Medikament für die Nerven. Die Menschen hier sind verzweifelt, sie leiden, und das ist etwas, das macht es leichter, macht sie happy. So können sie das hier aushalten, Geduld haben”, übersetzt Maria, die mit ihrer Tochter aus Syrien geflohen ist. Sie spricht am besten englisch, darum haben die Männer sie dazu geholt.

    “Manche Menschen kriegen die Pille vom Doktor, manche von irgendjemandem hier”, sagt Tarik. Doch auf einen Termin mit dem Doktor müsse man ewig warten. Offenbar ist Lyrica heiß begehrt. “Das Leben hier ist schwer. Manche Menschen nehmen die Pille. Eine, dann zwei, drei, vier.” Mit den Fingern zählt Tarik hoch bis zehn. “Zehn. Das ist schlecht. Das ist nicht gut”, sagt der ehemalige Psychologiestudent. Man sei dann einfach “relaxed”, wenn man Lyrica nimmt. Die Verführung ist groß: ein bisschen abschalten. “Sie nehmen sie nicht wie Medizin. Sie nehmen sie wie Drogen”, sagt Tarik.

    Für Pillen ist Geld da. Für warmes Wasser nicht.

    In Vial ist Lyrica im Umlauf. In einem “Hotspot” gibt es kaum medizinische Versorgung, warmes Wasser, kein Strom, keine Heizung - aber Pillen.

    Angststörungen und Traumata sind hier nicht selten. Symptome, die auch mit Pillen behandelt werden. Aber offenbar ist hier irgendetwas schief gelaufen. Manche haben die Pillen selbst genommen. Andere aber haben eine Währung daraus gemacht - mittlerweile gibt es einen Schwarzmarkt. Dass der entstehen konnte, hängt auch damit zusammen, dass die Pillen zeitweilig sogar in Wochenrationen statt tageweise ausgegeben wurden, erzählt uns jemand, der hier als Übersetzer für eine NGO arbeitet.

    Lyrica wird in dem Lager gehandelt, die Mitarbeiter von “Ärzte der Welt” wissen das. “Darum haben wir versucht, die Verteilung zu reduzieren”, sagt Natalia Argyrou. Doch das Problem scheint nicht neu: “Ich habe gehört, dass es einen Schwarzmarkt gibt: eine Pille mit 300 mg für fünf Dollar”, schreibt uns Roula Michati. Sie hat von September 2016 bis Juli 2017 für die Hilfsorganisation “Women and Health Alliance International” (WAHA) auf den griechischen Inseln gearbeitet.

    Inzwischen verkaufen auch Apotheken die Pille

    Das Medikament soll eigentlich nur für wenige Wochen gegeben werden und nur auf Rezept. Um Wirkungen und Nebenwirkungen im Blick zu haben, nur mit ärztlicher Betreuung. Und geht es um Angststörungen, dann begleitet durch eine Psychotherapie.

    In Vial ist das unter derzeitigen Bedingungen nicht möglich: “Ärzte der Welt” haben nur einen Psychiater und eine Psychologin im Lager, in dem aktuell über 2.000 Menschen sitzen. Offenbar verkaufen inzwischen auch Apotheken außerhalb des Lagers das verschreibungspflichtige Medikament, sogar ohne Rezept, erzählt uns einer, der hier als Übersetzer arbeitet - jedenfalls hatte er keinerlei Probleme, Lyrica zu kaufen:

    Marcus Engert / Jennifer Stange - BuzzFeed News / Via http://
    Marcus Engert / Jennifer Stange - BuzzFeed News / Via http://
    Marcus Engert / Jennifer Stange - BuzzFeed News / Via http://

    All das bei einem Medikament, von dem viele Experten glauben, dass es auch abhängig machen kann. Wie kann das sein?

    Auf jedem Zelt, auf jedem Teppich im Lager prangt das UNHCR-Logo. Die Vereinten Nationen sind seit Jahren mit ihrem Flüchtlingshilfswerk vor Ort, um Griechenland zu unterstützen und die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention zu überwachen. Dort fragen wir zuerst nach: “Wir haben keinerlei Informationen über den Missbrauch von verschreibungspflichtigen Medikamenten”, sagt Boris Cheshirkov vom UNHCR - und verweist uns an die griechische Regierung. Für die Gesundheitsversorgung sei das griechische Gesundheitsministerium zuständig. Auch nach sieben Tagen und mehreren Nachfragen erhalten wir keine Antwort von dort.

    Die Partnerorganisation des UNHCR vor Ort hingegen, “Ärzte der Welt”, weiß nicht nur vom Missbrauch - sie setzt das Medikament offenbar auch weiter ein. Obwohl die Probleme hier kein Geheimnis sind. Die europäische Arzneimittelagentur spricht bei Lyrica von Symptomen, die bei den Betroffenen den “Eindruck von physischer Abhängigkeit” erwecken - Entzugserscheinungen also: vor Zittern, Schlafstörungen, schwerer Unruhe, Schweißausbrüchen, Herzrasen und Krampfanfällen warnt die Landesärztekammer Baden-Württemberg. Um eine mögliche Sucht zu behandeln, ist es “dringend notwendig, suchtkranke Flüchtlinge zu identifizieren und ihnen psychologische und psychiatrische Unterstützung zu geben”, sagt Roula Michati von WAHA.

    Auch wenn man das Medikament plötzlich absetzt, kann es zu Problemen kommen. Denn Lyrica heilt keine psychischen Krankheiten, sondern dämpft lediglich Symptome, beispielsweise die von Angststörungen - lässt man die Pille weg, sind wahrscheinlich sie wieder da.

    9 Monate im Lager. Der Plan war: wenige Wochen.

    Die Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Flucht hinterlassen Spuren. Zu den psychischen Erkrankungen kommt noch die Enge im Lager, die Kälte und das Bewusstsein, hier, von den Inseln vor der Türkei, nicht wegzukommen. Eigentlich sollten die EU-Hotspots Transitlager sein. In kurzer Zeit sollte hier überprüft werden, ob die angekommenen Menschen in der EU überhaupt einen Asylantrag stellen dürfen, oder ob sie wieder in Türkei abgeschoben werden. Denn die Türkei gilt seit Einführung des EU-Türkei-Deals im März 2016 als “sicher”.

    In Lagern wie Vial aber sitzen die Menschen stattdessen fest. Sie warten monatelang auf eine Entscheidung - obwohl dem UNHCR “seitens der griechischen Regierung und der EU-Kommission schriftlich zugesichert” wurde, dass die “Verteilung zeitnah erfolgt und die Ressourcen dafür vorhanden wären”, schreibt Boris Cheshirkov, der Sprecher des UNHCR vor Ort.

    “In jedem Fall” müsse der Zugang zu medizinischer und psychosozialer Versorgung sichergestellt werden, sagt das griechische Asylgesetz. Antragsteller müssen „die erforderliche medizinische Versorgung erhalten“, sagt auch die betreffende EU-Richtlinie. Doch im Gegenteil: die Situation in den Lagern habe sich “verschärft”, die gesundheitliche Versorgung auf den Inseln sei noch immer “begrenzt”, schreibt der UNHCR.

    Nicht alle Hilfsorganisationen wollen unter diesen Bedingungen noch in den Lagern arbeiten: “Ärzte ohne Grenzen” hat sich nach dem EU-Türkei-Deal aus dem EU-Hotspot Moria auf der Insel Lesbos zurückgezogen - aus politischen Gründen. “Ich werde den Eindruck nicht los, dass es hier nur noch darum geht, die Menschen am Leben zu erhalten”, sagt Aria Ntanika von “Ärzte ohne Grenzen”. Ihr Team hat inzwischen eine eigene Klinik außerhalb des Lagers, um psychisch kranke Flüchtlinge zu versorgen. “In den letzten Monaten beobachten wir eine sehr beunruhigende Zunahme der psychischen Erkrankungen”, sagt sie. Das Camp Moria nennt sie nicht Hotspot, sondern “Detention Project”.

    Auf der Mauer am Lagereingang Moria ist ein Graffitti: “Welcome to Prison”. “Wir sind vor dem Krieg geflohen, weil wir Freiheit wollten. Aber hier gibt es keine Freiheit”, sagt Tarik am Lagerfeuer in Vial. Und dieses Gefühl kann offenbar auch keine Pille abstellen.


    Die Namen einiger Gesprächspartner wurden auf Wunsch der Betroffenen von der Redaktion geändert. BuzzFeed News hat der griechischen Regierung am 27. November einen Fragenkatalog zu dieser Recherche übersandt. Bis heute liegen uns darauf keine Antworten vor. Eine Recherche von Jennifer Stange und Marcus Engert.