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In Sachsen gab es 1600 Übergriffe gegen LGBT*s, zeigt eine erste landesweite Studie

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„Wir wurden in der Straßenbahn bedroht, beleidigt und beschimpft. Keine Person kam uns zu Hilfe. Die Täter verabschiedeten uns mit dem Hitlergruß.“

„Meine Freundin und ich wurden in der Straßenbahn bedroht, beleidigt und beschimpft. Wir mussten ein paar Haltestellen früher aussteigen. Keine Person kam uns zu Hilfe. Die Täter verabschiedeten uns mit dem Hitlergruß.“ So beschreibt eine Frau aus Sachsen ein Erlebnis, dass sehr wahrscheinlich in keiner Statistik gelandet ist.

Das Zitat ist Teil einer neuen Studie, die Hassgewalt gegen LGBT* in Sachsen untersucht hat – und zeigt, dass sich die Behörden bislang nicht genug damit befasst haben. Allein in den vergangenen fünf Jahren gab es in Sachsen mindestens 1672 Übergriffe gegen Lesben, Schwulen, Bisexuelle, trans Personen, intergeschlechtliche und queere Menschen.

Die nicht-repräsentative Studie „Gewalterfahrungen von LSBTTIQ* in Sachsen“ ist die erste landesweite Erhebung, die das Thema untersucht. Durchgeführt wurde sie von der LAG Queeres Netzwerk Sachsen zusammen mit der Hochschule Mittweida. Die Erhebung wird am heutigen Dienstag in Dresden vorgestellt und lag BuzzFeed News Deutschland vorab exklusiv vor.

Der Anlass für die Studie: Das Dunkelfeld ist riesig, es gibt kaum Maßnahmen für Prävention und Opferschutz. „Allein die Existenz dieses Papiers ist ein gigantischer Fortschritt“, sagt Martin Wunderlich, Pressereferent der Fachstelle LAG Queeres Netzwerk Sachsen e.V. und Co-Autor der Studie.

Auch Petra Köpping, die Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, antwortet auf Anfrage, sie sei froh, dass die neue Studie entstehen konnte. „Das Ergebnis zeigt uns aber auch ganz deutlich, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben, wenn wir ernsthaft den besonderen Bedürfnissen von LSBTTIQ* Rechnung tragen wollen.“

Beleidigungen, Bedrohungen, schwere Körperverletzung, Volksverhetzung

„Ich wurde als Schwuler, Arschficker etc. beschimpft, der nach Auschwitz abgeschoben gehört“, schreibt ein Teilnehmer der Studie. Solche Erlebnisse sind keine Einzelfälle: Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, sich in Sachsen nicht sicher zu fühlen. Die meisten den Autor*innen gemeldeten Angriffe waren Beleidigungen.

„Es gibt im Freistaat ein Gewaltproblem und es wirkt sich teils massiv negativ auf die Lebensqualität von LSBTTIQ* in Sachsen aus“, schreibt Wunderlich an BuzzFeed News. Dies könne nun niemand mehr leugnen oder kleinreden. „Erstmals können wir die jahrelangen Erfahrungen aus der Beratungspraxis unserer Mitgliedsvereine mit Fakten untermauern.“

In mehr als 500 Fällen sind LGBT* bedroht worden oder sie erlitten leichte oder schwere Körperverletzung. Trans Personen und nicht-binäre Menschen waren dabei besonders häufig betroffen. Knapp 80 Prozent gaben an, dass sie in den vergangenen fünf Jahren bedroht wurden. Die Erhebung zeigt auch, dass bei LGBT*-Gewalt von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden kann. Von insgesamt 267 Personen, die in der Studie von Gewalterfahrungen berichten, haben nur 30 diese auch angezeigt.

Die geschilderten Erlebnisse aus der Studie zeigen ein drastisches Ausmaß an Hassgewalt. Darin kamen immer wieder Vergewaltigung- und Tötungsdrohungen zur Sprache, „die sich auch auf die Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus bezogen und teils den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt haben könnten“, heißt es in der Studie.

BuzzFeed News hat alles Bundestagsfraktionen und queerpolitischen Sprecher*innen um Stellungnahme gebeten. Die aktuellen Zahlen zu Gewalt gegen LGBTIQ* zeigten, dass der politische Handlungsbedarf „regelrecht explodiert“ ist, schreibt Doris Achelwilm, queerpolitische Sprecherin der Linken.

„Als erstes muss auf Bundesebene die Botschaft ankommen und auch öffentlich weitervermittelt werden, dass wir es bei gruppenbezogener Gewalt gegen LGBTIQ* mit einem massiven Problem zu tun haben“, so Achelwilm. „Aus meiner Sicht sollte die nächste Konferenz der Innenminister dieses Thema auf die Tagesordnung nehmen und dazu Maßnahmen koordinieren“, schreibt die Bundestagsabgeordnete.

Nicht alle 1672 Übergriffe sind in der obigen Tabelle erfasst.

Behörden ignorieren das Problem

In Sachsen wurden zwischen 2001 und 2018 offiziell nur 62 Fälle von Gewalt gegen LGBT*s erfasst, zeigt eine kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Sarah Buddeberg. Eine spezifische Ansprechperson bei den Polizeibehörden gibt es in Sachsen nicht, anders als in vielen anderen Bundesländern.

Die neue Studie beweist nun, dass die offiziellen Zahlen aus Sachsen nicht stimmen können. Insgesamt haben die Betroffenen allein in den vergangenen fünf Jahren 72 Übergriffe angezeigt. Viele Anzeigen sind deshalb offenbar nicht in der Statistik erfasst worden.

„Gravierend“ und „beunruhigend“ nennt Christian Roßner, diese Differenz. Roßner ist Vorstandsvorsitzender des queeren Netzwerks RosaLinde Leipzig e.V., das die Studie mit beauftragt hat.

Stellungnahmen aus den Bundestagsfraktionen

Jens Brandenburg, der querpolitische Sprecher der FDP, schreibt BuzzFeed News auf Anfrage, die Zahlen aus Sachsen seien erschreckend. „Mandatsträger der extremen Rechten hetzen offen gegen sexuelle und geschlechtliche Identitäten“, schreibt Brandenburg. Politik und Gesellschaft dürften der Radikalisierung nicht weiter zusehen.

Er brauche einen nationalen Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie, fordert Brandenburg. Erst vor wenigen Wochen beschloss die FDP zusammen mit Linke und Grünen einen Gesetzesentwurf, um die sexuelle Identität im Grundgesetz zu schützen.

Auch Ulle Schauws und Sven Lehmann, die querpolitischen Sprecher*innen bei den Grünen, schreiben, es brauche dringend ein Bund-Länder-Programm gegen homo- und transfeindliche Gewalt. Sie fordern einen Rat von Sachverständigen, der mindestens alle zwei Jahre einen Bericht zum Thema vorlegen solle und die kriminalitätsbezogene Sicherheit von LSBTI beschreibt. Dies ist auch Teil eines nationalen Aktionsplans der Grünen, der erst vergangenen Freitag im Bundestag debattiert wurde.

„Begriffe wie 'schwule Sau, Kampflesbe, Transe‘ sind nicht schlechter Stil, sondern Beleidigungen und die sind strafbar und müssen es auch sein“, schreibt Karl-Heinz Brunner, queerpolitischer Sprecher der SPD. „Wir brauchen eine deutlich bessere Sensibilisierungen der Gesellschaft.“ In seiner Antwort an BuzzFeed News übt Brunner auch Kritik an der CDU/CSU. „LGBT*-Rechte sind Menschenrechte und, an unseren Koalitionspartner gerichtet, nicht verhandelbar. Wer sie verrät oder missachtet handelt gegen jede Form unseres Wertesystems!“, so Brunner.

Deshalb zeigten Betroffene Übergriffe an

Viele LGBT*s gehen nach einem Übergriff nicht zur Polizei. Von allen berichteten Gewalterfahrungen kamen weniger als fünf Prozent auch zur Anzeige, so die Autor*innen. Besonders selten werden Beleidigungen gemeldet – in nur rund zwei Prozent der Fälle. Dabei ist schon die Beschimpfung „Schwuchtel“ eine Straftat. Fallbeispiele aus der Berliner Staatsanwaltschaft zeigen, dass dafür mitunter mehr als 1000 Euro Geldstrafe fällig werden können.

Die Autor*innen der Studie präsentieren auch einen Grund für die wenigen Anzeigen: Polizeibeamte sind angeblich weder ausreichend über die Lebensumstände von LGBT*s informiert, noch treten sie ihnen gegenüber sensibel genug auf. 22 der 30 Personen, die ihre Fälle zur Anzeige brachten, fühlten sich nicht gut begleitet. Kaum jemand gab an, dass der oder die Beamte einen kompetenten oder informierten Eindruck beim Thema geschlechtliche Identität gemacht habe, weit über die Hälfte der Opfer fühlte sich nicht ernst genommen.

Mehr als 200 Personen gaben an, dass sie nicht zur Polizei gegangen seien, weil sie glauben, ihr Anliegen würde dort nicht ernst genommen – und weil der Übergriff sowieso nicht als Straftat gegen die eigene sexuelle oder geschlechtliche Selbstbestimmung gewertet würde.

Offizielle Zahlen bleiben hinter der Realität zurück

Diese Probleme gibt es nicht nur in Sachsen: Hassgewalt gegen LGBT* wird auch in vielen anderen Bundesländern von Behörden weitestgehend ignoriert und völlig unzureichend erfasst. Das ergab eine bundesweite Recherche von BuzzFeed News im vergangenen Jahr.

Die offiziellen Zahlen aus dem Bundesinnenministerium bleiben weit hinter der Realität zurück. Im Jahr 2017 meldete das Ministerium 313 Straftaten auf Grund der sexuellen Orientierung. Im Vergleich: Ähnlich viele verzeichnete das schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo – allerdings nur für Berlin. Dort ist die Erfassung sehr viel besser organisiert, weil es etwa zwei Ansprechpersonen bei der Polizei und eine Stelle in der Staatsanwaltschaft gibt, die für das Thema zuständig sind.

Vorurteile und Abwertung gegen queere Menschen stark verbreitet

Wenn Übergriffe nicht erfasst werden, gibt es für das Problem kein öffentliches Bewusstsein – und keinen Druck auf die Politik, etwas zu verändern. In Sachsen hat die Regierung 2017 einen Landesaktionsplan verabschiedet, um die „Akzeptanz der Vielfalt von Lebensentwürfen“ zu stärken. Doch darin steht auch, es gebe auf Grund der geringen Fallzahlen „[...] keinen Anlass für besondere Maßnahmen zur Sensibilisierung und Qualifikation von Polizeibeamten zum Thema Hasskriminalität bezogen auf LSBTTIQ [...].“

„Sachsen hängt in vielen Gleichstellungsbelangen stark hinterher“, schreibt Martin Wunderlich, Co-Autor der Studie. Knapp ein Drittel halten gleichgeschlechtliche Beziehungen für „unnatürlich“, ergab eine Umfrage des Sachsen-Monitor 2018. In diesem Jahr belegte Sachsen jeweils den letzten Platz im Vielfaltsbarometer der Robert Bosch Stiftung – sowohl in der Frage nach der Akzeptanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als auch im Gesamtindex der Akzeptanz von Vielfalt.

Der neuen Studie zufolge könnte es dafür mehrere Gründe geben: etwa die christlich-fundamentalistischen Haltungen in Südsachsen, dem sogenannten sächsischen Biblebelt. Auch die Ausbreitung rechter Gruppierungen spielt laut der Untersuchung eine zentrale Rolle. „Die engen Querverbindungen von rechter Gewalt und Hass gegen Homosexualität werden viel zu selten thematisiert“, schreibt Martin Wunderlich in einer Email an BuzzFeed News. Auch die anhaltende Landflucht dürfte eine Rolle spielen. So gebe es gerade im ländlichen Raum nicht genügend Freizeitangebote und Anknüpfungsmöglichkeiten für LGBT*s, so Wunderlich.

Erst vergangene Woche wurde am Landesgericht Chemnitz ein Urteil gegen drei Rechte gesprochen, die den homosexuellen Christopher W. im April 2018 zu Tode gefoltert hatten. Der Staatsanwalt sprach in seinem Schlussplädoyer von „absolutem Vernichtungswillen“. Doch weder rechte Gesinnung noch Homofeindlichkeit sind laut Gericht das Tatmotiv.

Man gehen davon aus, dass Homophobie das Tatmotiv war, sagte hingegen Andrea Hübler, Fachreferentin der Opferberatung Chemnitz, gegenüber BuzzFeed News. „Der Gewaltexzess und die vorherigen Anfeindungen sind klare Indizien für ein rechtes Hassverbrechen und ein menschenverachtendes Motiv, das ausgeklammert wurde.“

Was müsste jetzt passieren?

Die neue Untersuchung macht auch konkrete Vorschläge, was sich verbessern müsste, um LGBT* in Sachsen besser zu schützen. Die Autor*innen geben zwölf konkrete Handlungsempfehlungen. So solle es eine spezielle Ansprechperson für das Thema geben – und die Polizei sollte Gewalttaten gegen LGBT*s besser erfassen.

Der Dachverband Queeres Netzwerk Sachsen e.V. fordert nun, dass die Sächsische Staatsregierung auf die Studie reagiert. „Der körperlichen und geistigen Unversehrtheit von LSBTTIQ* in Sachsen muss endlich auf allen Ebenen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden“, schreibt Wunderlich.

Seid ihr Opfer von LGBT*-feindlicher Gewalt geworden? Hier findet ihr Hilfe:

Dieser Beitrag ist Teil unserer Reihe zu Hass und Gewalt gegen LGBT*s. BuzzFeed News berichtet verstärkt zu diesem Thema. Wenn du Hass oder Gewalt erlebt hast und unserer Reporterin davon erzählen möchtest, schreibe ihr eine Email an: juliane.loeffler@buzzfeed.com.

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