Krank durch Arbeit – und keiner zahlt

In Deutschland werden jedes Jahr tausende Menschen nicht entschädigt, obwohl ihre Arbeit sie krank gemacht hat. Die Unternehmen sparen dadurch hunderte Millionen Euro, auf Kosten der Steuerzahler. Das zeigen jahrelange Recherchen von BuzzFeed News Deutschland und ZDFzoom.

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Krank durch Arbeit – und keiner zahlt

In Deutschland werden jedes Jahr tausende Menschen nicht entschädigt, obwohl ihre Arbeit sie krank gemacht hat. Die Unternehmen sparen dadurch hunderte Millionen Euro, auf Kosten der Steuerzahler. Das zeigen jahrelange Recherchen von BuzzFeed News Deutschland und ZDFzoom.

Diese Recherche ist eine Kooperation mit dem ZDF. Eine halbstündige Dokumentation der Sendung ZDFzoom ist hier in der Mediathek zu sehen.

Mitarbeit: Bettina Dlubek und Sanaz Saleh-Ebrahimi.

Jürgen Pretzlaff hat 30 Jahre lang Dächer eingedeckt, auf den Knien, oft auch am Wochenende. Dabei hat er sich die Knie zerstört. Arthrose, in beiden Gelenken. Lange geht es mit Schmerzmitteln gut, bis wegen der vielen Medikamente eines Tages der Magen blutet. Die Ärzte nähen ihn wieder zusammen und Pretzlaff arbeitet weiter als Dachdecker – „man hat ja Familie und muss auch von irgendwas leben“ – aber irgendwann geht es nicht mehr. Er hört auf, da ist er gerade 50 geworden, schlägt sich weiter als Hausmeister durch.

Erst Jahre später erfährt Pretzlaff aus der Zeitung, dass er seine Krankheit bei einer Berufsgenossenschaft anzeigen kann. Denn die kümmern sich um alle, die wegen der Arbeit krank werden oder bei der Arbeit einen Unfall haben – sie versichern mehr als 50 Millionen Menschen.

Um eine Entschädigung zu bekommen, muss Pretzlaff bei der Arbeit insgesamt 13.000 Stunden gekniet haben. Er schreibt eine Liste mit rund zwei Dutzend Arbeitgebern auf und erklärt, wie viel er pro Woche in welchen Positionen gearbeitet hat. Die zuständige Berufsgenossenschaft Bau rechnet. Und kommt in ihrer ersten Prüfung nur auf 3600 Stunden. Viel zu wenig.

„Da habe ich schon gedacht, das soll ein Witz sein“, sagt Pretzlaff. Er holt sich Hilfe von einer Beratungsstelle und einem Anwalt. Die Berufsgenossenschaft korrigiert sich, auf gut 10.000 Stunden. Pretzlaffs eigene Berechnungen liegen bei mehr als 15.000 Stunden. Im Jahr 2018, drei Jahre nach seinem ersten Antrag, zieht er vor das Sozialgericht Lüneburg.

BuzzFeed News liegen die entsprechenden Unterlagen vor. Gespräche mit Jürgen Pretzlaff, dessen Sohn und Bruder sowie einem zuständigen Arbeitsschützer der Beratungsstelle „Arbeit und Gesundheit“ in Hamburg bestätigen die Aussagen Pretzlaffs.

Warum die Berufsgenossenschaft Bau sich bei ihrer Nachprüfung so stark nach oben korrigieren musste, was das über ihre Begutachtung aussagt und ob so etwas häufiger vorkommt – das will die Berufsgenossenschaft wegen des damals anstehenden Gerichtsverfahrens nicht beantworten.

Doch zu dem Verfahren kommt es nicht. Anfang Dezember 2018 – und damit mitten in den Recherchen für diesen Text – stirbt Pretzlaff an einer Blutvergiftung, die nichts mit der Kniearthrose zu tun hat. Pretzlaffs Familie gibt den Kampf auf.

Geschichten wie die von Jürgen Pretzlaff haben wir in den vergangenen Jahren zahlreiche gehört.

Die junge Friseurin, die ihre Ausbildung abbrechen musste, weil ihre Haut auf bestimmte Substanzen allergisch reagiert. Monatelang wartet sie darauf, dass sich die Berufsgenossenschaft meldet, weil sie vorher keine neue Ausbildung anfangen darf. Sie zieht wieder bei ihrer Mutter ein.

Der Mitarbeiter einer Stadtreinigung, der sagt, er habe sich bei der Arbeit eine Hautinfektion zugezogen. Seit zehn Jahren kann er nicht mehr arbeiten – sein Gerichtsverfahren ist mittlerweile in der zweiten Instanz. Gleichzeitig hat er den zuständigen Gutachter verklagt.

Der Fleischermeister, der auf Gerüche und Dämpfe allergisch reagiert. Zwei Dutzend Gutachten und fast zwei Jahrzehnte später kämpft er noch immer um eine Entschädigung der Berufsgenossenschaft.

Der Zimmermann, der nach 25 Jahren Arbeit mit Schlagbohrmaschine und Kreissäge chronische Schmerzen in beiden Handgelenken hat. Er war mehrfach in psychiatrischer Behandlung – auch wegen des anstrengenden Kampfes gegen die Berufsgenossenschaft.

Der Fleischer, der jahrzehntelang Rinderköpfe und Schweinehälften durch Metzgereien getragen hat – und jetzt seine Rückenprobleme nicht anerkannt bekommt, auch weil er zwischendurch in Spanien gearbeitet hat.

Der Tischler, der von seinem berufskranken Vater den Familienbetrieb übernommen hat, jahrelang mit Lösungsmitteln und Lacken arbeitete und dadurch – so sagt er – Nierenkrebs bekommen hat. Jetzt kämpft er um eine Anerkennung bei der Berufsgenossenschaft.

Unabhängig davon, ob ihnen rechtlich tatsächlich eine Entschädigung zusteht, haben diese Menschen eines gemeinsam: Ein tiefes Ungerechtigkeitsgefühl. Ihr Leben ist vom Kampf gegen die Berufsgenossenschaft geprägt. Sie schicken BuzzFeed News Unterlagen, geben bereitwillig Auskunft, immer wieder, zur Not stundenlang. Denn es fällt ihnen schwer, zu verstehen, warum sie – aus ihrer Sicht – zuerst ihre Gesundheit für die Arbeit geopfert haben – und jetzt nicht dafür entschädigt werden.

Und: Es gibt viele von ihnen.

Ihr habt Hinweise auf schlechte Arbeitsbedingungen oder Missstände im Arbeitsschutz? Diese Recherche ist der Auftakt zu unserem Schwerpunkt „Krank durch Arbeit“. Wir recherchieren weiter. Meldet Euch bei uns unter daniel.drepper@buzzfeed.com.

Jedes Jahr sterben in Deutschland gut 2500 Menschen an einer Berufskrankheit, das sind fast so viele Tote wie im Straßenverkehr. 75.000 Menschen zeigen jedes Jahr eine Berufskrankheit an, nur gut ein Viertel wird anerkannt. Das schreibt die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, der Dachverband der Berufsgenossenschaften, in ihrem Jahresbericht. Experten schätzen, dass es eine hohe Dunkelziffer von Menschen gibt, die ihre Berufskrankheit gar nicht erst anzeigen. In anderen Ländern, wie Frankreich, Spanien oder Dänemark werden deutlich mehr Berufskrankheiten anerkannt.

Anerkannte Berufskrankheiten pro 100.000 Erwerbstätige in verschiedenen europäischen Ländern.

BuzzFeed News Deutschland / Via eurogip.fr

Die Daten stammen aus einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2015 von Eurogip, einer französischen Organisation, die Berufskrankheiten in ganz Europa erforscht. Der Vergleich ist schwierig, da die Anerkennung einer Berufskrankheit in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Folgen hat, zeigt aber dennoch eine Tendenz.

In die Berufsgenossenschaften zahlen ausschließlich Unternehmen ein, über eine Umlage. Arbeiter müssen nichts beisteuern. Welche Krankheiten entschädigt werden und wie hoch die Hürden für eine Entschädigung sind, das legt das Arbeitsministerium fest. Wer eine Berufskrankheit anerkannt bekommt, erhält bessere Unterstützung bei der Reha, eine Umschulung oder eine deutlich höhere Rente.

Es ist eine Definitionsfrage: Ab wann ist eine Krankheit auf die Arbeit zurückzuführen und einer Entschädigung würdig? Und wann ist eine Erkrankung einfach nur persönliches Pech?

Für kranke Arbeiter ist die Berufsgenossenschaft der einzige Weg, von ihren Unternehmen entschädigt zu werden. Sie haben keine Möglichkeit, direkt gegen ihr Unternehmen vorzugehen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Berufsgenossenschaften gut funktionieren. Doch daran gibt es massive Zweifel.

BuzzFeed News Deutschland hat gemeinsam mit ZDFzoom jahrelang recherchiert, warum viele kranke Arbeiter nicht entschädigt werden. Wir haben hunderte Menschen getroffen, mit ihnen telefoniert oder E-Mails geschrieben. Darunter Betroffene, Anwälte, Ärzte, Arbeitsmediziner, Gutachter, Richter, Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Behörden und ehemalige Mitarbeiter von Berufsgenossenschaften.

Unsere Recherche zeigt, dass Betroffene immer wieder mit einer Reihe von Hürden kämpfen. Diese Hürden sorgen dafür, dass die Industrie jedes Jahr hunderte Millionen Euro spart, auf Kosten der Steuerzahler.

  • Berufsgenossenschaften bezahlen alle Gutachter – und suchen diese meist auch selber aus. Experten befürchten, dass dies zu wirtschaftlicher Abhängigkeit führen könnte.

  • Betroffene sind in der Beweispflicht, können lange zurückliegende Arbeitsbelastungen aber oft nur schwer belegen.

  • In ganz Deutschland gibt es nur sehr wenige unabhängige Beratungsstellen für Betroffene – und diese haben kaum Personal.

  • Arbeitnehmervertreter, die in den Berufsgenossenschaften für faire Entscheidungen sorgen sollen, müssen in wenigen Stunden Dutzende Fälle entscheiden. Häufig vertrauen sie den Empfehlungen der Berufsgenossenschaften.

  • Die einzige unabhängige Instanz im Verfahren, die Gewerbeärzte der Bundesländer, wird immer schwächer. Wegen fehlenden Personals prüfen die Gewerbeärzte nur noch jedes vierte Verfahren. Dadurch werden vermutlich auch viele zu Unrecht abgelehnte Anträge nicht entdeckt.

  • Die Zahl der Arbeitsmediziner in Deutschland sinkt seit Jahren. Experten beklagen, dass deshalb zu wenig zu neuen Berufskrankheiten geforscht wird, zum Beispiel zur Anerkennung von Depressionen als Berufskrankheit.

  • Das Bundesarbeitsministerium braucht viele Jahre, bis es neue Berufskrankheiten einführt. Das liegt auch daran, dass das zuständige Gremium sehr wenig Personal hat.

„Krank durch Arbeit“ als Podcast: Wir haben jahrelang zu Menschen recherchiert, die an Asbest erkrankt sind. Warum sterben jedes Jahr immer noch mehr als 1500 Menschen an Asbest? Warum durfte Asbest in Deutschland so lange verwendet werden? Welche Rolle spielte die Industrie? Und warum werden bis heute viele Betroffene nicht entschädigt? Anfang März veröffentlichen wir fünf exklusive Sonder-Folgen in unserem Recherche-Podcast „Unterm Radar“. Hier kannst du „Unterm Radar“ abonnieren.


Krankheiten verhindern statt nur zu kurieren

Einer, der sich seit 40 Jahren der Gesundheit von Arbeitern verschrieben hat, ist Ulrich Bolm-Audorff. Er studiert in den 70er Jahren Medizin und macht sich schon damals Gedanken über den Drehtüreffekt der Medizin. Die Leute kommen zum Arzt und werden behandelt, gehen zurück in ihr Leben, werden wieder krank, kommen zurück zum Arzt. „Die normale Medizin behandelt nicht die Ursachen“, sagt Ulrich Bolm-Audorff.

Es ist die Zeit der Kohlegruben, der Chemiefabriken, Arbeiter atmen krebserregendes Benzol und Kohlestaub ein, machen sich in den Schächten die Knie kaputt, werden schwerhörig, hantieren mit giftigen Stoffen. „Da an den Arbeitsplätzen ist mir klar geworden, woher die Krankheiten kommen.“

Bolm-Audorff macht damals ein Praktikum beim Gewerbearzt in Düsseldorf. Der kontrolliert die Berufsgenossenschaften, ist aber auch dafür zuständig, in Betrieben auf gute Arbeitsbedingungen zu achten. Bolm-Audorff fährt mit einer Chemikerin in eine Metallfabrik. Eine Maschine entfettet Metall mit Hilfe von Lösungsmitteln. „Das weiß ich noch wie heute: In dem Raum stank es fürchterlich. Und unter der Maschine war eine Lache und eine Zigarettenkippe da drin“, sagt Bolm-Audorff. Die Chemikerin bekommt einen Tobsuchtsanfall und legt die Maschine still, erinnert sich Bolm-Audorff. „Das fand ich so eindrücklich, wie diese Frau da aufgetreten ist und gleich die Krankheitsursache beseitigt hat. Da habe ich gedacht: Das musst Du machen.“

Rund 40 Jahre später ist Ulrich Bolm-Audorff einer der renommiertesten Arbeitsmediziner Deutschlands. Und einer der schärfsten Kritiker des Systems. Als leitender Landesgewerbearzt in Hessen läuft jedes Berufskrankheitenverfahren des gesamten Bundeslandes über seinen Schreibtisch. Er hat beste Verbindungen zu Wissenschaftlern, Behörden und Sozialrechtsanwälten. Seit Jahren sitzt er im Ärztlichen Sachverständigenbeirat des Arbeitsministeriums, der für die Einführung neuer Berufskrankheiten zuständig ist. Für Bolm-Audorff ist klar: Dieses System hat eine Menge Probleme. Und obwohl er diese seit Jahren beklagt, in Aufsätzen, Vorträgen und Gesprächen, hat sich – so sagt er – bis heute kaum etwas geändert.

Zu wenige Berufskrankheiten, zu wenig Forschung

Was in Deutschland als Berufskrankheit gilt, ist keine medizinische, sondern eine politische Entscheidung. Das Bundesarbeitsministerium setzt die Rahmenbedingungen. Es bestimmt die Abläufe, die Voraussetzungen zur Anerkennung – und auch, welche Krankheiten überhaupt anerkannt werden. Denn: Wenn eine Krankheit nicht auf der offiziellen Berufskrankheitenliste vermerkt ist, haben Betroffene so gut wie keine Chance auf eine Entschädigung.

Doch der Beirat, der für das Arbeitsministerium neue Berufskrankheiten definiert, arbeitet sehr langsam. Die zwölf Mitglieder, darunter auch Ulrich Bolm-Audorff, sind ehrenamtlich aktiv, treffen sich viermal im Jahr meist für einen Tag – und haben kaum Unterstützung, um Forschung zu betreiben. Viele Themen schleppen sich deshalb über Jahre.

Ulrich Bolm-Audorff hat in den vergangenen Jahren einige Krankheiten zusammengetragen, die seiner Ansicht nach viel früher hätten anerkannt werden müssen – weil die entsprechenden Gefahrstoffe bereits Jahre oder sogar Jahrzehnte vorher als krebserregend eingestuft wurden, von der Internationalen Agentur für Krebsforschung, einer Einrichtung der WHO.

Wann Stoffe von der WHO als krebserregend eingestuft wurden vs. seit wann sie in Deutschland als Berufskrankheit anerkannt sind.

BuzzFeed News Deutschland

Die Daten hat sich BuzzFeed News vom Bundesarbeitsministerium und der IARC bestätigen lassen.

Bolm-Audorff kritisiert seit Jahren, dass dem Beirat nur eine Mitarbeiterin für Literaturrecherchen und systematische, wissenschaftliche Reviews zur Verfügung stehe. Im Vergleich zu anderen Kommissionen der Bundesregierung sei das extrem wenig. Die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut hat knapp vier Mitarbeiter, der Sachverständigenrat für Umweltfragen sogar fast 20 – und auch noch zusätzliches Budget für externe Forschung.

Zwei weitere Mitglieder des Berufskrankheiten-Beirats, zwei der wichtigsten Arbeitsmediziner Deutschlands, unterstreichen Bolm-Audorffs Kritik. Die Professoren Hans Drexler und Dennis Nowak schreiben auf Anfrage von BuzzFeed News in einer gemeinsamen Antwort, dass „durch die ehrenamtliche „Nebenbei“-Arbeit medizinischer Sachverständiger neue Berufskrankheiten wesentlich langsamer vorangetrieben werden können, als dieses mit Unterstützung eines professionellen wissenschaftlichen Sekretariats von Mitarbeitern, die dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat zuarbeiten, möglich wäre.“

Die Arbeitsmedizin in Deutschland stirbt aus

Neue Berufskrankheiten werden auch deshalb so selten in Deutschland in die Berufskrankheitenliste aufgenommen, weil es viel zu wenig arbeitsmedizinische Forschung gibt. Das schreibt uns die Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin (DGAUM). In den vergangenen Jahren wurden sechs Lehrstühle in Rostock, Hannover, Essen, Heidelberg, Homburg/Saar und Ulm geschlossen. Heute gibt es nur noch 23 arbeitsmedizinische Lehrstühle in Deutschland.

In der Forschung gehe es heute fast nur noch um Veröffentlichungen in angesehenen Zeitschriften, beklagen die Arbeitsmediziner. Sie veröffentlichen selten in bekannten Magazinen wie Nature oder Science – und werden deshalb im Vergleich mit Biologen oder Chemikern deutlich schlechter bewertet.

„Was bei dieser Betrachtung völlig auf der Strecke bleibt, ist der Public Health Impact“, schreibt die DGAUM auf Anfrage von BuzzFeed News. Niemand interessiere es, ob durch die Forschung der Arbeitsmediziner die Bedingungen in Fabriken oder Büros verbessert werden. Es gehe ganz im Gegenteil auch in der Medizin immer mehr ums Geld. Die Lehrstühle für Arbeitsmedizin würden „bei den inzwischen ziemlich dominanten kaufmännischen Direktoren zunehmend in Ungnade fallen“.

BuzzFeed News hat alle deutschen Lehrstühle für Arbeitsmedizin angeschrieben. Die meisten geben eine dunkle Prognose. In ganz Baden-Württemberg gibt es nur noch einen einzigen Lehrstuhl. Die Leitung der Arbeitsmedizin der berühmten Berliner Charité war bis Herbst 2018 acht Jahre lang nicht besetzt. Und das mit Abstand größte Institut – an der Ruhr-Uni Bochum – ist von einer Berufsgenossenschaft finanziert.

Zahlreiche Professorinnen und Professoren schreiben, dass wegen der dünnen Personaldecke anspruchsvolle Forschung nur noch im Rahmen von Drittmittel-Projekten stattfindet, also in Projekten, die etwa von Unternehmen oder Stiftungen bezahlt werden.

„Sie sehen, alle schreien nach Arbeitsmedizin, aber keiner unterstützt das kleine Nischenfach“, schreibt Professor Peter Deibert von der Uniklinik in Freiburg. „Die Not wird in den nächsten Jahren dramatisch größer werden, da die existierenden Arbeitsmediziner überaltern und viel Nachwuchs benötigt wird.“

Die Berufsgenossenschaft muss gegen sich selbst ermitteln

Doch selbst wenn genug Forschung zusammengetragen wurde und der Beirat im Arbeitsministerium eine Krankheit auf die Berufskrankheitenliste setzt, ist der Weg zur Entschädigung weit.

Betroffene müssen zwei Hürden nehmen. Im ersten Schritt untersucht die Berufsgenossenschaft: Hat der Lackierer wirklich mit giftigen Stoffen gearbeitet? Hat die Pflegerin genug Patienten ins Bett gehievt? Hat ein Dachdecker wie Jürgen Pretzlaff wirklich genug gekniet? Im zweiten Schritt wird medizinisch bewertet, ob es sich tatsächlich um eine anerkannte Berufskrankheit handelt – und nicht nur um eine „arbeitsbedingte Erkrankung“, die zwar zu bedauern ist, aber von den Berufsgenossenschaften nicht entschädigt wird.

Häufig gibt es Probleme mit den beiden Gutachten. Das sagen Menschen, die jahrzehntelang an solchen Gutachten beteiligt waren. Einer von ihnen ist Xaver Baur.

Xaver Baur hat zehn Jahre lang für ein von den Berufsgenossenschaften getragenes Forschungsinstitut gearbeitet, war langjähriger Lehrstuhlinhaber für Arbeitsmedizin in Bochum und Hamburg und ist einer der renommiertesten Arbeitsmediziner Europas.

Baur kritisiert, dass die Berufsgenossenschaft sich als Beklagte selbst überführen muss. Denn die Berufsgenossenschaft ist nicht nur für die Entschädigung von kranken Arbeitern zuständig, sondern auch dafür, dass in den Betrieben die Prävention funktioniert. Wenn sie jetzt also ermittelt, dass die Belastung zu hoch war, dann „ist das gleichzeitig auch ein Eingeständnis, dass sie den Betrieb nicht richtig überwacht hat“, sagt Baur. Die Berufsgenossenschaft habe „letztendlich selber die Erkrankung mitverursacht“.

Ob jemand unter schädigenden Arbeitsbedingungen gearbeitet hat, das ermitteln Mitarbeiter der Berufsgenossenschaft ausschließlich selbst. Sie ermitteln quasi gegen sich selbst. Ein Fehler im System? Wie das Arbeitsministerium betont auch der Dachverband DGUV auf Anfrage: Es sei in der Sozialversicherung die Regel, dass diejenigen, die zahlen müssen, auch ermitteln. So laufe das in der Pflege-, in der Kranken- und auch in der Rentenversicherung.

Was beide verschweigen: Die DGUV kann – und soll – sehr viel mehr für Prävention und Vorbeugung tun als die anderen Sozialkassen. Die Mitarbeiter der Berufsgenossenschaften dürfen laut Gesetz die Betriebe unangekündigt betreten und Unterlagen mitnehmen. Sie können Präventionsmaßnahmen und Arbeitsabläufe prüfen sowie die Konzentration gefährlicher Stoffe testen. Oder sogar Maschinen abstellen, wie die Chemikerin in den 1970er Jahren, die den Arzt Ulrich Bolm-Audorff so beeindruckt hat.

Die Berufsgenossenschaften müssen sich also – anders als Pflege-, Kranken- oder Rentenversicherung – bei einer Entschädigung von Betroffenen ihr eigenes Versagen attestieren. Dass der Sozialstaat so viele Aufgaben in einer Institution bündelt – und damit so viel Macht – das ist bei den Berufsgenossenschaften einzigartig.

Baur fordert, dass es insgesamt leichter werden müsse, eine Krankheit anzuerkennen. Große Probleme gibt es vor allem, wenn die Belastungen lange zurück liegen oder wenn Akten nicht mehr auffindbar sind. Dann bleibt es den Betroffenen überlassen, die Beweise zu liefern. „Der Erkrankte muss letztendlich belegen, dass auf ihn schädigende Einwirkungen stattgefunden haben. Und wenn das nicht gelingt, dann geht er leer aus“, sagt Baur.

Wie aber soll ein nervenkranker Tischler am Ende eines Berufslebens belegen, dass er vor 30 Jahren beim täglichen Lackieren giftige Lösungsmittel eingeatmet hat? Und dass die Dosis über die Jahre insgesamt hoch genug war für eine Anerkennung? Zumal, wenn damals vielleicht noch gar nicht klar war, dass die Stoffe giftig sind? Und der Betrieb längst insolvent ist und alle Akten vernichtet hat? Die Belastungen zu belegen wird immer schwieriger, wenn immer weniger Menschen ihr ganzes Leben beim selben Arbeitgeber beschäftigt sind – oder überhaupt keine feste Anstellung bei einem bestimmten Betrieb haben.

Angesichts so komplizierter Ermittlungsverfahren scheint es besonders problematisch, dass es in Deutschland so gut wie keine unabhängigen Gutachter für die Arbeitsbelastung gibt, also für die erste der zwei Gutachter-Hürden. Wer der Berufsgenossenschaft und ihrer Ermittlung nicht vertraut, hat große Probleme, einen eigenen Gutachter zu finden. BuzzFeed News hat trotz zahlreicher Nachfragen überhaupt nur drei unabhängige Gutachter gefunden, welche sogenannte „arbeitstechnische Ermittlungen“ durchführen, also die Arbeitsbelastung untersuchen. Alle drei haben früher jahrzehntelang für die Berufsgenossenschaften gearbeitet und schreiben jetzt – im Ruhestand – Gutachten im Nebenverdienst.

Keiner der drei Gutachter wollte sich von BuzzFeed News mit Aussagen über seinen ehemaligen Arbeitgeber zitieren lassen. In Hintergrundgesprächen verdeutlichen die Gutachter zum Teil jedoch: Die Ermittlungen der Berufsgenossenschaften scheinen hin und wieder zu oberflächlich zu sein. Entweder, weil die Ermittler zu wenig Zeit haben – oder weil sie bei lange zurückliegenden Belastungen selbst keinen Zugang haben zu den benötigten Informationen.

Die Berufsgenossenschaften schreiben auf Anfrage von BuzzFeed News, ihre Mitarbeiter hätten ausreichend Zeit für ihre Ermittlungen. Kein Betroffener würde abgelehnt, ohne dass ausreichend Ermittlungen stattgefunden hätten. Die DGUV, der Dachverband der Berufsgenossenschaften, plant keine „Änderung der Rolle der Aufsichtspersonen der Berufsgenossenschaften (...) oder eine Ausweitung des Kreises der Zuständigen“, antwortet die Pressestelle auf unsere Anfrage.

Medizinische Gutachter: Zu oft abhängig und einseitig?

Die Ermittlung der Arbeitsbelastung ist aber nur die erste Hürde. Die zweite Hürde ist das medizinische Gutachten. Das muss bestätigen, dass die Krankheit durch die Arbeit verursacht wurde, dass es sich also wirklich um eine Berufskrankheit handelt. Auch diese medizinischen Gutachten werden von vielen Experten kritisiert. Einer von ihnen ist Heinz Fritsche von der IG Metall. Fritsche hat vor fünf Jahren das „Schwarzbuch Berufskrankheiten“ geschrieben, übt als Vertreter der Gewerkschaften selbst verschiedenen Funktionen bei den Berufsgenossenschaften aus und kämpft seit Jahren für Verbesserungen im System. Einer seiner Haupt-Kritikpunkte: Die medizinischen Gutachter seien abhängig von den Berufsgenossenschaften.

Die Berufsgenossenschaften sind der größte Auftraggeber für diese medizinischen Gutachten. „Die Vermutung liegt natürlich nahe: Wenn ich wirtschaftlich stark abhängig bin von den Berufsgenossenschaften, dann werde ich eine Neigung dazu haben, denen eher gefällige Gutachten zu liefern und eher ungünstige Gutachten für den Versicherten“, sagt Fritsche. Mittlerweile gibt es zahlreiche Gutachter, die ihre eigentliche Arbeit als Arzt aufgegeben haben und stattdessen fast ausschließlich für Berufsgenossenschaften arbeiten. Das bestätigen neben Fritsche, Baur und Bolm-Audorff auch zahlreiche Anwälte, mit denen wir gesprochen haben. Es gibt Anwaltskanzleien, die im Internet offen vor einer Reihe von Instituten warnen.

Es soll sogar Gutachter geben, bei denen fast 100 Prozent ihrer Gutachten zu einer Ablehnung durch die Berufsgenossenschaften führen. Diese Gutachter empfehlen also so gut wie nie eine Entschädigung für Betroffene. Das bestätigen mehrere regelmäßig mit solchen Gutachten befasste Personen gegenüber BuzzFeed News.

Betroffene bekommen von den Berufsgenossenschaften für ihr Verfahren drei Gutachter zur Auswahl vorgeschlagen. Sie können jedoch nicht erkennen, wie unabhängig diese Gutachter sind. Arbeitet ein Gutachter fast ausschließlich für Berufsgenossenschaften? Ist er vielleicht sogar bei einem Krankenhaus angestellt, das von einer Berufsgenossenschaft finanziert wird? Oder ein sogenannter „Beratungsarzt“ der Berufsgenossenschaft, der regelmäßig mit deren Mitarbeitern zusammenarbeitet? All das müssen weder die Berufsgenossenschaften transparent machen, noch die Gutachter selbst.

Ulrich Bolm-Audorff schreibt schon seit Jahren in verschiedenen Aufsätzen über diese Probleme. „Nach meiner festen Überzeugung steuern Teile der Unfallversicherungsträger die Quote anerkannter Berufskrankheiten durch gezielte Auswahl medizinischer Sachverständiger“, schreibt er. Wer als Arzt besonders häufig für eine Entschädigung von Betroffenen argumentiert, werde nicht mehr für Gutachten angefragt, sagt Bolm-Audorff im Gespräch mit BuzzFeed News.

Der Dachverband der Berufsgenossenschaften DGUV verweist auf die Sozialgerichte, die dafür zuständig sind, die Entscheidungen der Berufsgenossenschaften zu überprüfen, wenn Betroffene klagen. Diese Sozialgerichte würden die Auswahl der Gutachter nicht kritisieren, schreibt die DGUV auf Anfrage. BuzzFeed News hat alle 83 Sozialgerichte in Deutschland angefragt. Im Gegensatz zur Aussage der DGUV üben eine ganze Reihe von ihnen Kritik an den Gutachtern und deren Auswahl.

Das Sozialgericht Dresden schreibt, die Ermittlungen der Berufsgenossenschaften ließen „meist zu wünschen übrig. Einige Berufsgenossenschaften verlagern den Aufwand größtenteils auf die Sozialgerichte. Ihnen reicht eine Kurzstellungnahme ihres beratenden Arztes zur Ablehnung aus.“

Experten stünden oft in einem Lager, schreibt Carsten Schütz, Direktor des Sozialgerichtes Fulda. Es sei unklar, wie viel die Gutachter für die Berufsgenossenschaften arbeiten. Dies werde dem Gericht nicht mitgeteilt. „Ich selbst habe immer versucht, etwa möglichst Chefärzte von Hochschulkliniken zu bekommen, weil die mir am ehesten unabhängig schienen“, schreibt Schütz. Er habe als Sozialrichter grundsätzlich keine Gutachter genommen, die viel für Berufsgenossenschaften arbeiten.

BuzzFeed News hat alle arbeitsmedizinischen Lehrstühle in Deutschland befragt, ob sie Gutachten für Betroffene anbieten und wie sie insgesamt die Verfügbarkeit unabhängiger Gutachter bewerten. Mehrere Professorinnen und Professoren schreiben, dass sie gar keine oder kaum Gutachten erstellen, auch weil diese nicht auf ihren wissenschaftlichen Erfolg einzahlen und damit eine Art Hobby sind. „Wir erhalten andauernd Anfragen und weisen ab, weil wir schlichtweg keine Zeit dazu haben. Das genau ist das große Dilemma beim Berufskrankheitenverfahren“, schreibt die Pressestelle der Uniklinik Freiburg. „Es besteht ein Gutachtermangel“, schreibt Susanne Völter-Mahlknecht, Professorin für Arbeitsmedizin an der Berliner Charité.

Die DGUV schreibt, sie könne nicht nachprüfen, ob Ärzte durch die Gutachten finanziell abhängig werden. Zudem könne es ja auch sein, dass manche Gutachter besonders viele Aufträge bekommen, weil sie von Betroffenen sehr geschätzt und daher von diesen häufig ausgewählt werden. Das Bundesarbeitsministerium verweist auf drei Kleine Anfragen der Grünen und Linken aus den Jahren 2017 und 2018. „Beim Einsatz von Gutachtern (...) ist die Objektivität gewährleistet“, schreibt das Ministerium dort.

Laien sollen Experten kontrollieren

Wenn eines der Gutachten negativ ausfällt, haben die Betroffenen große Probleme. Denn dann ist die nächste Hürde im System sehr schwer zu überwinden. Zuständig für die Anerkennung von Berufskrankheiten sind die sogenannten Rentenausschüsse in den Berufsgenossenschaften. Dort sitzen jeweils ein Vertreter der Unternehmen und ein Vertreter der Arbeiter. Von einem Sachbearbeiter der Berufsgenossenschaft lassen diese sich die Fälle vortragen – um dann darüber zu entscheiden. Das klingt gut, nach Gleichberechtigung und Kontrolle – hat aber mehrere Problem.

Der Vertreter der Unternehmen kann, wenn es zum Konflikt kommt, den Arbeiter überstimmen. Bei Unentschieden werden die Anträge von Betroffenen abgelehnt. Zudem machen die Mitglieder der Rentenausschüsse den Job ehrenamtlich. Und sie sind weder medizinisch noch rechtlich ausgebildet. „Dort treffen Laien auf hoch spezialisiertes Fachwissen. Da lässt sich nicht ohne Weiteres Waffengleichheit herstellen“, sagt IG-Metall-Experte Heinz Fritsche, der selbst seit Jahren in solchen Ausschüssen sitzt.

Die Mitarbeiter der Berufsgenossenschaften beschäftigen sich über Jahre und Jahrzehnte mit nichts anderem, bereiten die Fälle vor und fassen sie für die Mitglieder der Ausschüsse zusammen. Diese haben dann oft nur wenige Minuten, um über die einzelnen Fälle zu entscheiden. Wir haben alle neun Berufsgenossenschaften gefragt, wie lange eine durchschnittliche Sitzung dauert und wie viele Anträge entschieden werden: Im Schnitt haben die Ausschussmitglieder für 30 Entscheidungen etwa zwei bis drei Stunden Zeit, also etwa fünf Minuten pro Fall.

Gerhard Popp ist Betriebsrat bei einem Papier-Unternehmen in Heidenheim und Mitglied in einem solchen Rentenausschuss, bei der Berufsgenossenschaft Holz und Metall. Heute steht er im gläsernen Turm der IG Metall in Frankfurt. Er findet es schwierig, die Berufsgenossenschaften zu überwachen.

„Dort liegen ungefähr 50, 60 Ordner. Über diese Fälle entscheiden wir dann in so zwei, drei Stunden, alles oberflächlich“, sagt Gerhard Popp. „Wir hätten natürlich auch die Möglichkeit, vorher Akteneinsicht zu nehmen. Aber das ist nicht machbar.“ Bei den meisten Berufsgenossenschaften können die Ausschussmitglieder die Akten nach Recherchen von BuzzFeed News nur in den Räumen der Berufsgenossenschaft sichten. Sie müssten also vor ihren Sitzungen anreisen und die Akten durchgehen, unbezahlt.

Die Mitglieder der Rentenausschüsse entscheiden also in kürzester Zeit über zum Teil komplexe Fälle, in die sie sich vorab nicht einlesen können. Deshalb ist Gerhard Popp heute bei einer Fortbildung der IG Metall. Er will besser nachfragen können, wenn es um die Ermittlungen der Berufsgenossenschaft geht. In den Rentenausschüssen trägt jeweils ein Mitarbeiter der Berufsgenossenschaft die Fälle vor. An diesem müssen sich Mitglieder wie Gerhard Popp orientieren. „Der erklärt uns die ganzen Fälle in Schnellform. Und dann sagen wir: Ja, ist in Ordnung. Nein, ist nicht in Ordnung.“

Popp sagt, es sei besser, auf den Sachverständigen von der Berufsgenossenschaft zu vertrauen und sich die Fälle in wenigen Stichworten vortragen zu lassen, als dass man sich selber ein Bild von den Fällen macht. In den Entscheidungen gehe es häufig darum: Vertraue ich dem Sachbearbeiter der Berufsgenossenschaft? Glaube ich ihm, dass er seine Arbeit gut gemacht hat? Wie ist mein Gefühl? „Wenn man das Gefühl hat: Es ist wirklich alles getan worden, um zu helfen. Das hilft einem bei der Entscheidung“, sagt Susanne Altkrüger, Mitglied in einem Ausschuss der Berufsgenossenschaft Holz und Metall. „In diesem Moment vertraue ich dem, was er gesammelt hat an Gutachten und dass das, was er vorträgt, korrekt ist.“

Was Ausschussmitglieder wie Popp und Altkrüger oft nur schlecht beurteilen können: Wurde schlampig recherchiert? Wurde der Fall von Gutachtern oder Sachbearbeitern einseitig zugunsten der Berufsgenossenschaft interpretiert?

Die DGUV schreibt, dass die Beteiligung von „verwaltungsexternen Akteuren“ vom Gesetzgeber so gewollt sei, um die Perspektive der Betroffenen in das staatliche Handeln einzubringen. Funktion dieser Beteiligung sei, „dass sie ihr Wissen über die betriebliche Praxis in das Verfahren und die Entscheidungen einbringen.“ Das Bundesarbeitsministerium ergänzt, da Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit jeweils gleicher Stimmenzahl vertreten seien, sei „ein Höchstmaß an Repräsentanz der unterschiedlichen Interessenlagen in der Selbstverwaltung sichergestellt“.

Landesgewerbeärzte: Geschwächte Kontrolleure

Um Fehler der Berufsgenossenschaften zu entdecken, gibt es eigentlich eine staatliche Instanz. Die Landesgewerbeärzte. Sie sind bei den Bundesländern angestellt und können jedes Verfahren überprüfen. Viele Experten fordern eine Stärkung der Landesgewerbeärzte. Sie sind die einzige unabhängige Instanz, die die Berufsgenossenschaften auf Augenhöhe kritisieren kann.

„Am liebsten wäre uns, der IG Metall, wäre mir, wenn jede Berufskrankheit vom Landesgewerbearzt begutachtet würde, weil der am unabhängigsten ist und eigentlich auch über die meisten Fachkenntnisse verfügt“, sagt auch Heinz Fritsche von der IG Metall. „Dann wären wir aus ganz vielen Streitfällen raus.”

Doch die Zahl der Landesgewerbeärzte sinkt seit Jahren. „Ich habe neulich den letzten Landesgewerbearzt Niedersachsens getroffen“, sagt Heinz Fritsche. „Eine Person, die für ein ganzes Bundesland zuständig ist. Das ist natürlich weniger als ein Alibi.“

Nach Recherchen von BuzzFeed News und ZDFzoom gibt es diesen Trend in ausnahmslos allen Bundesländern. Beschäftigten die Bundesländer 1996 noch 160 Landesgewerbeärzte, ist diese Zahl im Jahr 2018 auf 70 gefallen. In Bremen gibt es seit 2017 keinen Gewerbearzt mehr, in Sachsen und Niedersachsen einen einzigen. Fast ein Drittel aller deutschen Gewerbeärzte arbeiten mittlerweile in Bayern. In Nordrhein-Westfalen ist jeder der fünf Gewerbeärzte dagegen für weit mehr als eine Million Beschäftigte zuständig.

Die Bundesländer beschäftigen immer weniger für den Arbeitsschutz zuständige Gewerbeärzte.

BuzzFeed News Deutschland

Die Daten stammen aus dem Unfallverhütungsbericht des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahr 1996 und aus einer eigenen Recherche im November 2018.

Einer dieser wenigen Gewerbeärzte ist Ulrich Bolm-Audorff – der Arzt, der vor 40 Jahren seine Berufung in Kohlegruben und Fabriken gefunden hat. Seit 1986 arbeitet er als Gewerbearzt, ist seit vielen Jahren Chef des „Fachzentrums für medizinischen Arbeitsschutz“ in Wiesbaden. Seine Abteilung ist dafür zuständig, dass Unternehmen in Hessen auf den Arbeitsschutz achten – und dafür, die Arbeit der Berufsgenossenschaften zu kontrollieren. Die Arbeitsschutzabteilungen der Landesregierung Hessen sind für rund 275.000 Betriebe zuständig. Ulrich Bolm-Audorff und seine vier Kolleginnen und Kollegen können sich jede Akte ansehen, von jeder Berufsgenossenschaft, von jedem Fall in Hessen – und können die Berufsgenossenschaften dazu zwingen, neu zu ermitteln.

„Wir stehen auf Seiten der Versicherten. Wir nehmen für sie eine Kontrollfunktion als unabhängiger staatlicher Beamter wahr und gucken, ob alles richtig ist“, sagt Bolm-Audorff. Denn: „Die gesamten Kosten der gesetzlichen Unfallversicherung zahlen ja die Unternehmer. Da wird schon sehr drauf geguckt, dass nicht zu viele Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle anerkannt werden. Das ist meine feste Überzeugung.“

Doch Bolm-Audorff kann längst nicht mehr alle Verfahren überprüfen, dafür hat er zu wenige Mitarbeiter. Von den etwa 5000 Anzeigen pro Jahr prüft sein Team nur noch etwa 1000. „Die Zeit ist knapp. Und daraus ersieht man ja schon, dass die Landesregierung diesen Teil der Tätigkeit ihrer Mitarbeiter nicht mehr für so wichtig hält.“

Die Folge: Viele Bundesländer schränken unseren Recherchen zufolge die Kontrollen ein. BuzzFeed News liegt eine interne Präsentation des Landesinstitutes für Arbeitsgestaltung in Nordrhein-Westfalen vor. Die Präsentation beschäftigt sich mit der Situation der Gewerbeärzte in Deutschland und zeigt: In Deutschland ist jeder Gewerbearzt für mehr als 500.000 Beschäftigte zuständig, in manchen Bundesländern sind es sogar weit mehr als eine Million Beschäftigte pro Arzt.

Ein Landesgewerbearzt ist in Deutschland im Schnitt für mehr als 500.000 Menschen zuständig.

BuzzFeed News Deutschland

In NRW, Niedersachsen und Schleswig-Holstein prüfen die Gewerbeärzte aufgrund des fehlenden Personals nur noch drei bis fünf Prozent aller Berufskrankheiten-Verfahren. Das zeigt eine weitere, interne Präsentation, die BuzzFeed News vorliegt. Die Präsentation zeigt auch: Im Schnitt prüfen Gewerbeärzte in Deutschland nur jede vierte Berufskrankheiten-Anzeige. BuzzFeed News veröffentlicht die beiden Präsentationen nicht im Original, da dies möglicherweise Rückschlüsse auf die Quellen zulassen könnte.

In ganz Deutschland prüfen die Gewerbeärzte nur noch etwa ein Viertel aller Berufskrankheiten-Verfahren.

BuzzFeed News Deutschland

BuzzFeed News hat alle 16 Bundesländer zur Tätigkeit ihrer Landesgewerbeärzte befragt. Die Antworten untermauern die Hinweise aus den beiden Präsentationen. In Berlin zum Beispiel werden Berufskrankheiten-Verfahren fast nur noch nach Aktenlage bearbeitet. Die Behörde prüft nicht mehr, ob Risiken auch für andere Mitarbeiter derselben Betriebe bestehen. „Routinemäßige, präventive Arbeitsplatzbegehungen finden nicht mehr statt“, schreibt die Pressestelle der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales auf Anfrage.

Das ist ein Problem, weil so falsche Ermittlungen der Berufsgenossenschaften seltener auffallen. „Bei 20 bis 30 Prozent der Verfahren, die ich selbst beurteile, komme ich zum Ergebnis: Die Ermittlungen der Berufsgenossenschaft sind aus meiner Sicht unzureichend“, sagt Ulrich Bolm-Audorff. Mehrere aktuelle und ehemalige Landesgewerbeärzte bestätigen uns, dass sie einen erheblichen Teil der Akten, die sie prüfen, wegen falscher Ermittlungen zurück an die Berufsgenossenschaften schicken – damit diese noch einmal neu ermitteln. Teilweise bekommen die Betroffenen so erst dank des Einspruchs der Gewerbeärzte eine Berufskrankheit anerkannt, die sie sonst nicht anerkannt bekommen hätten. Wenn die Gewerbeärzte jetzt nur noch einen kleinen Teil der Ermittlungen prüfen, bleiben potentiell viele falsche Ablehnungen unwidersprochen.

Nach Berechnungen von BuzzFeed News und ZDFzoom könnten jedes Jahr tausende Menschen zu Unrecht nicht von den Berufsgenossenschaften entschädigt werden. Das bedeutet: Sie bekommen eine schlechtere medizinische Behandlung und potentiell auch weniger Rente.

Und: Wenn eine Berufsgenossenschaft eine Berufskrankheit nicht anerkennt – und damit auch nicht für die Kosten aufkommt – müssen Kranken-, Pflege oder Rentenversicherung zahlen. Wenn die Betroffenen nicht mehr arbeiten können, greift die Grundsicherung: Hartz IV. Würde die Berufsgenossenschaften bezahlen, käme das Geld dagegen zu 100 Prozent von den Unternehmen. Und das, weil die Bundesländer nicht genug Gewerbeärzte beschäftigen. Und weil es sonst niemanden gibt, der die Ermittlungen der Berufsgenossenschaft mit der entsprechenden Kompetenz und Macht prüfen kann.

Keine Lobby für betroffene Arbeitnehmer

In ganz Deutschland gibt es kaum unabhängige Beratungsstellen für Betroffene. Eine davon ist die Beratungsstelle „Arbeit und Gesundheit“ in Hamburg. Finanziert wird sie von der Stadt. Ihr Leiter, Michael Gümbel, fordert mehr Unterstützung für die Betroffenen. Denn ohne Hilfe würden viele Menschen von der Bürokratie der Berufsgenossenschaften abgeschreckt, von den umfangreichen Formularen, die – so sagt Gümbel – oft schwer zu verstehen sind.

„Es baut sich so ein großes Ohnmachtsgefühl auf, dem ganzen Gesundheitssystem gegenüber“, sagt Gümbel. Zumal Betroffene, die im Anschluss gegen die Berufsgenossenschaft vor Gericht gehen, nur etwa jedes zehnte Verfahren gewinnen. Die Betroffenen hätten das Gefühl, „sie müssten dafür entschädigt werden, dass sie ihrem Arbeitgeber quasi ihre Gesundheit geopfert haben.“ Das mache den Betroffenen extrem zu schaffen. „Die sind dann oft in einer Abwärtsspirale drin, weil sie sich so hilflos fühlen.“

Doch für die Beratung von Berufskrankheiten-Anzeigen ist in Hamburg weniger als eine Stelle vorgesehen. Zuletzt konnte die Arbeitsstelle deshalb pro Jahr nur etwa ein Dutzend Menschen beraten – bei 1000 Anträgen, allein in Hamburg, jedes Jahr.

Neben Hamburg bietet auch Bremen eine unabhängige Beratung an. Auch die Bremer schreiben, die Betroffenen seien ohne Hilfe „meist überfordert“. „Eine große Hürde stellt die Flut der jeweiligen Vordrucke der Berufsgenossenschaften dar“, schreibt die Pressesprecherin der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz auf Anfrage.

Wir haben alle übrigen 14 Bundesländer angefragt: Kein anderes Bundesland gibt Geld für eine solche Stelle oder hat konkrete Pläne, eine solche einzurichten. Viele Länder verweisen auf ihre eigenen Gewerbeärzte. Die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales schreibt, das Thema werde „zurzeit auf Fachebene geprüft“. Das saarländische Umweltministerium schreibt, es werde unsere Anfrage „jedoch zum Anlass nehmen, die Konzeption einer solchen unabhängigen Beratungsstelle für das Saarland im Bündnis für Arbeitsschutz Saar zu erörtern.“

Ein neues Gesetz in 2019, aber viele Probleme bleiben wohl

Wie steht der Dachverband der Berufsgenossenschaften zu den Schwächen im System? Pressesprecher Stefan Boltz schreibt uns, dass die Berufsgenossenschaften selbst seit Ende 2016 Änderungen fordern. Probleme in den Rentenausschüssen oder mit angeblich abhängigen Gutachtern weist er jedoch zurück.

Das Arbeitsministerium ist für die Berufskrankheiten zuständig. In den kommenden Monaten will es einen neuen Entwurf für das Gesetz vorlegen, das die Entschädigung von Berufskrankheiten regelt. Was genau plant das Bundesarbeitsministerium? Ein Interview mit Minister Hubertus Heil oder dem zuständigen Staatssekretär Björn Böhning war für BuzzFeed News und ZDFzoom trotz mehrfacher Anfragen über Wochen hinweg leider nicht möglich.

Ende November sind wir daher zu Gast bei einem von Hubertus Heils Zukunftsdialogen in Jena. Hier können Bürger ihre Fragen an den Minister loswerden. Zwei Wochen vor der Veranstaltung akkreditieren wir uns, zwei Tage vorher lädt uns die Pressestelle wieder aus. Wir fahren trotzdem hin. Doch auf unsere Fragen will Heil nicht antworten. Auf das Thema Berufskrankheiten habe er sich nicht vorbereitet. Er bietet uns einen Termin in Berlin an, doch trotz mehrfacher Fristverlängerung kommt es nicht zu einem Treffen.

Schriftlich teilt uns das Ministerium mit, dass es im Laufe des Jahres einen Gesetzesentwurf vorlegen will. Die Inhalte „sind innerhalb der Bundesregierung noch nicht abgestimmt“. Einige der von uns recherchierten Hürden will das Ministerium bearbeiten, darunter den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten. Andere Hürden will das Ministerium offenbar nicht angehen. Bei den Rentenausschüssen zum Beispiel verweist die Pressestelle darauf, dass Arbeitnehmer und Unternehmen „mit jeweils gleicher Stimmzahl vertreten“ seien. Und: Beim Einsatz von Gutachtern sei „die Objektivität gewährleistet“.

Für Betroffene bleibt nur der Gang vor Gericht, wenn ihr Antrag abgelehnt wird. Die Familie von Jürgen Pretzlaff, dem Dachdecker, der in den Augen der Berufsgenossenschaft ein paar hundert Stunden zu wenig gekniet hat, konnte sich den jedoch schlicht nicht leisten. Ihre Rechtsschutzversicherung greift nicht mehr. Das Risiko, gegen die Berufsgenossenschaft zu verlieren, ist der Familie zu groß.

„Vom Herzen her würde ich das sehr gerne durchziehen, aber als Student habe ich nicht das Geld. Vor allem, wenn die Aussichten so unsicher sind“, sagt Jürgen Pretzlaffs Sohn Nico. Der 22-Jährige studiert noch, Logistikmanagement. Wenige Tage nach dem Tod von Jürgen Pretzlaff trifft sich Nico Pretzlaff mit dem betreuenden Rechtsanwalt. Dieser rät laut Nico Pretzlaff, die Klage fallen zu lassen. Fünfstellige Kosten würden sonst auf ihn zukommen. Der Anwalt wollte nicht mit BuzzFeed News über den Fall sprechen.

„So weit ich mich erinnern kann, hatte mein Vater immer Schmerzen. Den Rücken, die Knochen, die Handgelenke, der Nacken, die Beine“, sagt Nico Pretzlaff. In den vergangenen 20 Jahren habe es kaum einen Tag gegeben, an dem Jürgen Pretzlaff keine Schmerzen hatte. „Das hat sein Leben komplett bestimmt.“

„Mein Vater war enttäuscht von der BG Bau, dass sie nicht auf ihn zugekommen ist, sondern immer nur auf Druck Eingeständnisse gemacht hat“, sagt Nico Pretzlaff. „Das war für ihn natürlich frustrierend, aber er hat sich nicht runterziehen lassen. Er war immer ein Kämpfer und hat gesagt: Irgendwann bekomme ich die Berufsgenossenschaft dran.“


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